Ob Treffpunkt, Wahrzeichen oder Pilgerstätte – das Gänseliesel ist aus Göttingen nicht wegzudenken. Seit fast 125 Jahren steht es prominent auf einem Sockel mitten in Göttingen am Marktplatz der Stadt, die Wissen schafft. Wer hier promoviert, folgt einer alten Tradition: Man bringt dem Gänseliesel Blumen dar und küsst es symbolisch.
Das Gänseliesel ist nicht nur Namensvetterin des Göttinger Weinfestes, des Stadtfestes und eines Wohnquartiers, sondern längst auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Doch was viele nicht wissen: Es ist kein Unikat. Göttingens Wahrzeichen hat eine kaum bekannte, bislang verborgene Zwillingsschwester.
In Das doppelte Lieschen geht der Journalist und Autor Jürgen Gückel der Geschichte dieser ungleichen Zwillinge auf den Grund. Gückel war 23 Jahre lang als Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts tätig und wurde für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Sein im März diesen Jahres im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienenes Buch haben wir zum Anlass genommen, dem Autor drei Fragen zu stellen:
Jürgen Gückel, Sie haben gerade ein Buch über die meistgeküsste Brunnenfigur Göttingens geschrieben und dessen verborgene Zwillingsschwester: Was hat Sie dazu inspiriert? Wie haben Sie von der Zwillingsschwester erfahren?
Genau diese Tatsache hat mich fasziniert: dass es Zwillinge mit krass gegensätzlicher Vita sind! In Göttingen hält jeder die Gänselieselfigur im Städtischen Museum für das Original und die auf dem Marktbrunnen für die Kopie. Vor mehr als zehn Jahren habe ich während einer politischen Bildungsreise der Europa Union jedoch von einem Mitglied der Eigentümerfamilie erfahren, dass es noch einen weiteren Bronzeguss des Künstlers Paul Nisse von seiner Originalform gibt. Das Göttinger Liesel – obgleich Ergebnis eines exklusiven Künstlerwettbewerbs der Stadt – ist also kein Unikat. Aber es hat fast zehn Jahre gedauert, bis die Familie einverstanden war, dass ich über ihr doppeltes Lieschen, das eigentliche Original, berichte. Und wie sich herausstellte, wussten die Eigentümer auch nicht, wie es zum heimlichen Zweitguss gekommen ist. Es war eine lange Recherchereisen, auf die ich den Leser in meinem Buch gern mitnehme.
Welche Szene in Ihrem Buch gefällt Ihnen besonders gut?
Da gibt es viele – ich bin mir meines Reporterglücks durchaus bewusst, denn so irre Zufälle gibt es nicht alle Tage: Ausgerechnet der Vater einer späteren Göttinger Gänseliesel-Biografin nimmt das Leipziger Liesel mit ins Kirchenasyl und schützt es dadurch vor Enteignung in der DDR, ein gewähltes leibhaftiges Gänseliesel outet sich während seiner Amtszeit als Mann und vollzieht damit nach, womit schon das Märchen spielt, und eine heimliche Künstlerkopie realisiert das, was schon Paul Nisse vor 125 Jahren vergeblich vorschlug, nämlich viele kleine Gänseliesel als Souvenir. So etwas ist für jeden Autor ein echter Glücksfall.
Was denken Sie, welche Bedeutung das Gänseliesel über die Stadt Göttingen hinaus hat? Und welche Bedeutung könnte Ihrer Meinung nach seine Zwillingsschwester erlangen?

Die als zu akademisch empfundene Kunst aus der Kaiserzeit steht heute nicht mehr hoch im Kurs, und Paul Nisse, so gelungen das Gänseliesel ist, war kein bekannter Künstler. Aber stellen Sie sich vor, Ernst Barlach, der für den Marktbrunnen-Wettbewerb einen Herold entwarf, hätte gewonnen? Andererseits liegt die Bedeutung jedes Kunstwerks auch in seiner Geschichte. Denken Sie an die Banane an der Wand. So gesehen ist das Göttinger Bronzemädchen – hunderttausendfach geküsst, millionenfach fotografiert, Mittelpunkt eines einmaligen akademischen Rituals – bedeutende Kunst und als städtisches Wahrzeichen weltweit bekannt. Und wenn die Schwester, das Leipziger Mauerblümchen, mit ihrer Geschichte nun bekannt wird und sogar eine Ausstellung im städtischen Museum erstmals nach 125 Jahren beide Bronzeschwestern zusammenführt, gewinnt auch dieser Erstguss an Bedeutung. Eigentlich gehört das ältere Original ja nach Leipzig, schließlich stand es Jahrzehnte dort, wo später das Gästehaus des Ministerrates der DDR gebaut wurde – vielleicht erkennt man das dort noch. Es wird jedenfalls Zeit, dass das Leipziger Liesel aus dem Keller kommt.
Das vollständige Interview findet sich unter https://www.alumni-goettingen.de/news/gaenseliesel_verborgene-schwester/