Dass Niedersachsen lebenswert ist, davon sind die meisten von uns überzeugt. Aber dass die bisher älteste auf genetischem Wege identifizierte Großfamilie der Welt aus Niedersachsen stammt, überrascht dennoch. In Osterode am Harz leben bis heute Nachfahren eines großen Familienclans aus prähistorischer Zeit – dies konnten Wissenschaftler*innen der Universität Göttingen in den 2021 abgeschlossenen Forschungen zur nahe bei Osterode gelegenen Lichtensteinhöhle nachweisen.
Anfang der 1970er Jahren entdeckten Höhlenforscher einen bis dahin unbekannten Abschnitt der Höhle. Weitere zehn Jahre später folgte die Entdeckung eines verfüllten Durchgangs, der zu tiefer in den Berg hineinführenden Höhlenabschnitten führte. Diese hintereinander angeordneten Höhlenkammern wurden zu einer archäologischen Sensation: unter einem Überzug aus Gipssinter fand sich eine fast flächendeckende Schicht menschlicher Knochen, die relativ schnell in die jüngere Bronzezeit datiert werden konnte.
Die umfangreichen Fundplätze bargen einen vor rund 3.000 Jahren fest verschlossenen Höhlenbereich, in dem sich mehr als 4.300 menschliche Knochen fanden. Mit Hilfe von DNA-Analysen ließen sie sich als sterbliche Überreste von insgesamt 62 Menschen unterschiedlichsten Alters und Geschlechts identifizieren.
Nachdem eine Nutzung der Höhle als rituelle Opferstätte weitestgehend ausgeschlossen werden konnte, erschien – auch aufgrund der ermittelten Verwandtschaftsstrukturen im Sinne eines Familienclans – die Nutzung der Höhle als Bestattungsplatz am plausibelsten. Heute geht man davon aus, dass in der Höhle über Generationen hinweg Angehörige des Clans bestattet wurden. Sehr besonders und ungewöhnlich dabei war, dass ihre Knochen aus einer Zeit stammten, in der der vorherrschende Bestattungsmodus die Leichenverbrennung und anschließende Beisetzung auf sogenannten Urnenfeldern war.
In der Höhle waren die Gebeine durch die relativ konstante Höhlentemperatur von 6-8°C sowie den durch herabtropfendes Wasser entstehenden Kalkfilm vor Einflüssen des Wetters und der Zeit geschützt. Dies war der Grund für den herausragenden Erhalt der in den Knochen eingelagerten DNA und machte den Fundplatz zu einem außergewöhnlichen Archiv wissenschaftlicher Forschungen, der die Anthropologin Dr. Susanne Hummel und Ihre Kolleg*innen an der Historischen Anthropologie und Humanökologie der Universität Göttingen in der Folge über einen Zeitraum von rund 20 Jahren beschäftigen und begeistern sollte. Einen Einblick in ihre Erkenntnisse bieten neben zahlreichen Publikationen auch das Höhlenerlebniszentrum Iberger Tropfsteinhöhle sowie die Webseite der Universität.