Lernen von Erfindungen der Natur

Muscheln erfreuen uns mit ihren Formen und Farben - Foto: Daniel Jackson

Das Sammeln von Muscheln am Strand ist eine beliebte Beschäftigung im Urlaub. Die Schalenvielfalt und zum Teil auch das schillernde Perlmutt erfreuen uns immer wieder. Wie aber bilden die Tiere diese filigranen Strukturen? Damit beschäftigt sich der Biologe Prof. Dr. Daniel Jackson seit vielen Jahren. Er forscht seit 2008 am Geowissenschaftlichen Zentrum der Universität Göttingen in der Abteilung Geobiologie.

Herr Jackson, warum sind Muscheln für Sie ein faszinierendes Forschungsobjekt?

Ich finde Schalenweichtiere (Conchifera), zu denen auch die Muscheln zählen, sowohl ästhetisch als auch wissenschaftlich faszinierend. Die Vielfalt der Formen, Funktionen, Verzierungen und Pigmentierungen ihrer Schalen beschäftigt mich seit meiner Promotion. Es gibt noch Vieles, was wir bislang kaum verstehen. Zum Beispiel wissen wir wenig über die Evolution der Schalen von Weichtieren, vermuten aber, hier die Erklärung zu finden, warum diese Tiergruppe evolutionär so erfolgreich war und heute die zweitgrößte Tiergruppe auf dem Planeten ist.

Auch die Art und Weise, wie sich das Material selbst, also Kalziumkarbonat (CaCO3), unter biologischen Bedingungen bildet, ist kaum verstanden. Früher nahm die Wissenschaft an, dass eine Schale durch einen relativ einfachen Prozess gebildet wird, bei dem eine gesättigte Lösung einfach zu dem kalkhaltigen Material ausfällt, das wir in der Schale sehen. Heute wissen wir jedoch, dass viele Hunderte von Proteinen direkt am Prozess der Verkalkung beteiligt sind, ebenso wie an der Musterung und Pigmentierung. Außerdem arbeiten viele weitere Proteine hinter den Kulissen, um zum Beispiel ausreichend CaCO3 zu liefern, die endgültige Struktur vor Verwitterung zu schützen und eine unkontrollierte Verkalkung zu verhindern. Viele der Gene, die diese Proteine kodieren, gibt es nur bei Weichtieren. Ihre Funktionen müssen wir noch weiter erforschen.

Mit molekularbiologischen Untersuchungen und einem Abgleich mit zahlreichen Genomdaten sind Sie der evolutionären Entwicklung der sogenannten Biomineralisation auf der Spur. Einfach gefragt: Mit welchen Strategien gelingt es Muscheln, eine solche Schalenvielfalt zu bilden?

Es gibt viele verschiedene Arten von Muscheln. Allgemein gehen wir davon aus, dass alle Muscheln einen gemeinsamen Vorfahren haben, der einen Prozess der Schalenbildung konzipierte und diesen an alle seine Nachkommen weitergab. Im Laufe der Zeit haben die verschiedenen Linien der Weichtiere unabhängig voneinander Teile dieses Prozesses verändert – was zu der heutigen Vielfalt an Schalen führt. Das Prinzip der Schalenbildung lässt sich so beschreiben: Ein dünnes Gewebeepithel – der so genannte Mantel, der die Rückenfläche des Tieres bedeckt – scheidet eine unlösliche Schicht aus organischem Material aus. Darauf kristallisiert sich CaCO3. Diese Kombination macht die Schale viele hundert Mal stärker als das spröde CaCO3 allein.

Im Labor schauen wir uns die Prozesse der Biomineralisation vor allem auf molekularer Ebene an. Zum Beispiel versuchen wir, ein vollständiges Bild aller Proteine und der dazugehörigen Gene zu erstellen, die direkt am Aufbau einer Schale für eine einzelne Art beteiligt sind. Wir haben herausgefunden, dass wir eine Vielzahl von Ansätzen und Methoden benötigen, um tatsächlich alle entscheidenden Proteine zu identifizieren. Die meisten von ihnen und auch die Funktionen ihrer Gene müssen wir erst noch erforschen.

Dies ist herausfordernd und benötigt viel Zeit. Es kann sich aber lohnen, denn: Ein umfassenderes molekulares Verständnis der Art und Weise, wie Weichtiere in der Lage sind, CaCO3 bei biologischen Temperaturen und Drücken effizient auszufällen, könnte auch Auswirkungen auf Technologien zur grünen Kohlenstoffbindung haben.

In einer aktuellen Studie haben Sie sich in einem internationalen Team mit den sogenannten Byssusfäden beschäftigt. Das sind seidenartige Fasern, mit denen sich Dreikantmuscheln sehr hartnäckig an jeder Oberfläche anhaften. Die Bauweise dieser Fäden bieten Ansatzpunkte für die Entwicklung nachhaltiger Materialien. Welche Chancen bieten sich hier?

Wir haben viele Einblicke in ein sehr ungewöhnliches Material erhalten. Erst haben wir das vorherrschende Protein dieses Fadens identifiziert und anschließend untersucht, wie ein so großes Protein eine Beta-Faltblatt-Struktur annehmen kann. Diese Struktur bildet die Grundlage für die Stärke dieser Fäden. Damit ist es den Muscheln möglich, sich unter Wasser an einer Oberfläche festzuhalten und starken Kräften wie zum Beispiel Wellen oder Raubtieren zu widerstehen. Unsere Erkenntnisse könnten als Anregung dienen, Materialien wie selbstheilende Fasern, widerstandsfähige Unterwasserbeschichtungen und Nassklebstoffe zu entwickeln.

Interessant ist auch die Geschichte des Gens, das für diese Proteinfasern kodiert. Vor einigen Millionen Jahren lieferte ein Bakterium das genetische Vorläufermaterial, das ein Vorfahre der Muschel entwickelte, um es als Byssusfaden zu verwenden. Die Summer dieser Erkenntnisse unterstreichen die Schönheit, Komplexität und Evolutionsgeschichte, die allen Lebensformen zugrunde liegen. Ein besseres Verständnis dieser Phänomene ist oft nicht nur intellektuell bereichernd, sondern wir können manchmal auch von der Mutter der Erfindung selbst lernen, wie wir einige der bedeutenden Herausforderungen in unserer modernen Welt angehen können.

Prof. Dr. Daniel Jackson – Foto: Meike Wollni
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