Chemie begeistert

Für Laien ist Chemie zuweilen schwer verständlich. Aber die Begeisterung von Prof. Alcarazo, geschäftsführendem Leiter des Institus für Organische und Biomolekulare Chemie, steckt an.

Sie haben 2018 einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten, mit dem Ihr Projekt Sulfur-based solutions for the selective functionalization of organic substrates (SULFOSOL) für einen Zeitraum von fünf Jahren gefördert wird. Was erforschen Sie und Ihr Team in dem Projekt?

Bevor ich der Frage auf den Grund gehe, möchte ich Ihnen ein Beispiel geben. Stellen Sie sich vor, ein Labor hat ein Produkt entwickelt, das bei der Behandlung einer Krankheit sehr wirksam ist, aber leider hat dieses Nebenwirkungen, die von der Verwendung abhalten. In dieser Situation, die leider sehr häufig vorkommt, haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir gehen davon aus, dass unser Produkt ein klinischer Misserfolg ist und fangen mit einem neuen Ziel wieder bei Null an, was bedeuten würde, dass
die gesamten Kosten der ursprünglichen Idee und der Produktion verloren gehen. Alternativ können wir versuchen, unser Medikament so zu „reparieren“, dass die unerwünschten Nebenwirkungen reduziert oder gar beseitigt werden. So, wie ich eine Brille verwende, um die negativen Auswirkungen meiner Kurzsichtigkeit zu korrigieren, kann einem möglichen Medikament eine „molekulare Prothese“ – in der Chemie würden wir es eine funktionelle Gruppe nennen – hinzugefügt werden, um einen bestimmten molekularen Mangel zu korrigieren. Wenn diese Lösung funktioniert, sparen wir Geld und Zeit. Nun, das ist das Ziel des SULFOSOL-Projekts. Wir versuchen Reagenzien zu entwickeln, die in der Lage sind, funktionelle Gruppen gezielt in komplexe Moleküle, deren Synthese bereits optimiert ist, einzuführen. Dies ermöglicht eine endgültige Neujustierung
ihrer Eigenschaften und mit etwas Glück kann der ursprüngliche Misserfolg in ein zulassungsfähiges Medikament umgewandelt werden.

Ich habe das Beispiel eines Medikaments angeführt, aber das gleiche Prinzip kann auch für die Optimierung von Pestiziden, Flüssigkristallen oder molekularen Maschinen genutzt werden. Die Art von Reagenzien, die wir in meiner Forschungsgruppe entwickeln, sind Sulfoniumsalze, und da diese Verbindungen geeignet sind, synthetische Probleme auf unkomplizierte Weise zu lösen, habe ich das Projekt SULFOSOL genannt.

Sie sind gebürtiger Spanier und haben Chemie an der Universität Sevilla studiert, wo Sie auch promoviert wurden. 2005 sind Sie als Postdoc nach Deutschland gekommen, 2015 folgten Sie dem Ruf auf eine W3-Professur für Organische Chemie an die Universität Göttingen. Wie war der Wechsel von Spanien nach Deutschland für Sie? Was war vertraut, was fremd oder unerwartet?

Mein erster Eindruck war nicht der beste. Man muss bedenken, dass ich in einer sehr schönen historischen Stadt aufgewachsen bin und studiert habe und für meinen Postdoc plötzlich ins Ruhrgebiet gezogen bin, welches kein Musterbeispiel für urbane Ästhetik ist. Auch die Sprache war zunächst eine
große Hürde. Bevor ich hierher kam, konnte ich kein Deutsch, und man braucht natürlich einige Zeit, um mit Muttersprachler*innen fließend zu kommunizieren und die Menschen zu verstehen. Aber … nach ein paar Jahren habe ich mich an Deutschland gewöhnt und fühle mich jetzt in beiden Ländern zu Hause. Zu Hause, in Spanien, bin ich jetzt als der Deutsche bekannt, und hier als der Spanier. Ironie des Lebens …

Aus beruflicher Sicht hat die Arbeit in Deutschland den Vorteil, dass die Universitäten hier oft über mehr Ressourcen und eine bessere Infrastruktur verfügen als die spanischen, nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre. Das erleichtert uns die tägliche Arbeit und bietet, was das wichtigste an einer Hochschule ist, viele zusätzliche Möglichkeiten für die persönliche Weiterentwicklung unserer Studierenden.

Was macht den Forschungsstandort Göttingen für Sie attraktiv?

Göttingen ist eine wunderschöne Stadt, in der sich alles um die Universität dreht. Dies macht es besonders attraktiv für Studierende und Professoren. Die Wahrheit ist, dass jeder die Universität Göttingen für den Einfluss kennt, den sie auf die Wissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte. Es ist ein Prestige, Professor an dieser Universität zu sein, und es ist unsere Verpflichtung, nicht selbstgefällig zu werden und stets zu versuchen, unser Qualitätsniveau in Lehre und Forschung zu verbessern.

Was mein spezielles Forschungsgebiet betrifft, so hat Göttingen den Vorteil, dass es innerhalb des Göttingen Campus möglich ist, Expert*innen für viele komplementäre Themen zu finden, und was auch wichtig ist, dass fast jede Ausrüstung, an die ich denken kann, durch interne Kooperationen zur Verfügung steht. Unsere Multidisziplinarität bringt unsere Projekte in eine andere Dimension.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Prof. Alcarazo ist ein Auszug aus dem Jahresbericht 2022 der Universität. Der Jahresbericht mit dem kompletten Text ist auf den Webseiten der Universität verfügbar, das vollständige Interview findet sich dort ab Seite 50.

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