Im Gespräch mit Prof. Bela Gipp über die Transformation von Forschungsbibliotheken ins Zeitalter der KI.
Im April 2022 haben Sie den Ruf auf die Professur Analyse wissenschaftlicher Informationsressourcen in Göttingen angenommen. Ihre Professur ist als Bindeglied zwischen dem Fachbereich Informatik und der Abteilung Forschung und Entwicklung der Niedersächsischen Staat- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) konzipiert. Welche Chancen und Potenziale sehen Sie hierin?
Eine der spannendsten Herausforderungen und größten Chancen meiner Professur sehe ich darin, die SUB, also eine weltweit bekannte Forschungsbibliothek, bei ihrer Transformation ins Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI) zu begleiten und zu unterstützen. Die Konzepte, Methoden und Systeme, welche die SUB und mein Team gemeinsam entwickeln, eröffnen nicht nur neue Perspektiven für die SUB selbst, sondern auch für andere Forschungsbibliotheken und die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft.
Die enge Verknüpfung mit dem Institut für Informatik bietet der SUB, neben den Impulsen für die gemeinsame Forschung, auch die Chance, dem zunehmenden Fachkräftemangel, insbesondere bei Informatikern, effektiv zu begegnen. Durch die Einbindung der SUB in Lehrveranstaltungen meiner Professur sowie gemeinsame Forschungsprojekte können Studierende frühzeitig tiefe Einblicke in die vielseitigen und spannenden Projekte der SUB erhalten und sie als einen attraktiven potenziellen Arbeitgeber kennenlernen. Außerdem betreue ich Promovierende, die an Forschungsprojekten der SUB arbeiten.
Ein besonderes Potenzial für die Arbeit meiner Professur liegt in der vielfältigen Fachexpertise, hohen Reputation und weitreichenden Vernetzung der SUB in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Dies führt zu spannenden und komplexen Problemstellungen, die wiederum den Anstoß für interdisziplinäre Projekte geben. Die Möglichkeit, neueste Forschungsergebnisse unmittelbar in langfristig betriebene und genutzte Systeme einzubinden und zu erproben, ist ein weiterer unschätzbarer Vorteil. Es ermöglicht nicht nur die praktische Anwendung von Theorie, sondern auch die kontinuierliche Weiterentwicklung und Optimierung dieser Systeme im Echtzeitbetrieb.
Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt aktuell auf der Erforschung von Methoden für die computergestützte Verarbeitung natürlicher Sprache sowie dem Abruf, der Analyse und der Visualisierung von Informationen in großen Datenbeständen. Können Sie uns an einem oder zwei Beispielen erläutern, womit genau Sie und Ihr Team sich beschäftigen?
Zwei aktuelle Forschungsprojekte verdeutlichen das Zusammenspiel der verschiedenen Forschungsbereiche. Im ersten Projekt mit dem Arbeitstitel LibraryGPT entwickeln wir gemeinsam mit der SUB einen virtuellen persönlichen Assistenten für Bibliotheksbesucher*innen, quasi ein ChatGPT zugeschnitten auf die SUB. Der Assistent wird es Besucher*innen ermöglichen, interaktiv in den Buch- und Medienbeständen der SUB zu recherchieren, Fragen zu stellen und Analysen durchzuführen. Beispielsweise soll der Assistent Fragen zu konkreten Werken beantworten, Zusammenfassungen von Werken erstellen oder Vergleiche zu anderen Werken im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen liefern können. Zusammengefasst soll er ein personalisierter Forschungs- und Lernbegleiter sein, der jederzeit auch den physischen Zugriff auf die Originalquellen, aus denen der Assistent seine Informationen bezieht, ermöglicht. Um einen solchen Assistenten zu realisieren, bedarf es zum einen moderner KI-basierter Verfahren der natürlichen Sprachverarbeitung, insbesondere große neuronale Sprachmodelle, sowie effiziente Methoden, um die umfangreichen und vielfältigen Medienbestände der SUB zu analysieren und zugreifbar zu machen. Natürlich braucht es auch eine ansprechende Nutzeroberfläche, welche die vielfältigen Informationen übersichtlich zusammenführt und visualisiert.
All diese Komponenten sind auch für das zweite Forschungsprojekt zur Erkennung und Bekämpfung von „Media Bias“ essenziell. Media Bias bezeichnet unausgewogene oder verzerrte Nachrichtenberichterstattung, die weltweit vorkommt und immer häufiger Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidung hat, man denke nur an die Brexit-Debatte zurück. Man kann sich leicht vorstellen, dass zum Beispiel die Berichterstattung über den Ukrainekrieg in Russland, Europa und den USA deutlich voneinander abweicht. Aber auch innerhalb Deutschlands gibt es Unterschiede in der Berichterstattung über dieses und andere Themen. Das Problem ist, dass man verschiedene Quellen, idealerweise in verschiedenen Ländern und damit oft auch Sprachen lesen muss, um einen Überblick darüber zu bekommen, welche Tendenz bestimmte Quellen aufweisen. Die wenigsten haben hierfür Zeit. Ziel unseres Projektes ist es, automatisiert eine große Zahl an Nachrichtenartikeln aus verschiedenen Quellen zusammenzutragen, mittels KI zu analysieren und Tendenzen in der Berichterstattung innerhalb einer webbasierten Oberfläche anschaulich zu visualisieren. Auf diese Art können sich Nachrichtenkonsument*innen schneller und umfassender über die Nachrichtenlandschaft informieren.
Weiterhin widmen mein Team und ich uns auch der innovativen Nutzung von Drohnen. Gemeinsam mit Studierenden konstruieren, bauen, programmieren und erproben wir Drohnen für spezielle Anwendungen, wie beispielsweise die autonome Rettung von Rehkitzen. Dabei geht es darum, dass junge Rehe sich oft regungslos in Feldern oder Wiesen verstecken. Insbesondere während der Erntezeit laufen sie Gefahr, von Landmaschinen verletzt oder getötet zu werden. Um sie zu schützen, rüsten wir selbstentwickelte Drohnen mit hochauflösenden Kameras für infrarotes Licht sowie mit KI-gestützter Bilderkennung und Flugsteuerung aus. Auf diese Art können die Drohnen selbstständig relevante Gebiete nach Rehkitzen absuchen und Helfer auf deren Position aufmerksam machen, damit die Tiere rechtzeitig vor dem Ernteeinsatz in Sicherheit gebracht werden können.
Das Forschen und Entwickeln hat Sie früh fasziniert – schon zu Schulzeiten haben Sie mehrfach bei Jugend forscht mitgemacht, später haben Sie – unter anderem während Ihrer Promotion – mehrere Technologie-Start-ups (mit-)gegründet. Wenn Sie auf Ihren bisherigen Weg zurückschauen, was würden Sie als die für Sie wichtigsten Weichenstellungen betrachten?
Die Teilnahme an Jugend forscht war eine sehr bedeutende Weichenstellung für mich. Durch den Wettbewerb habe ich meine Leidenschaft für Forschung und Wissenschaft vertiefen können. Auch haben die Erfolge dort, wie der dreimalige Gewinn des Landeswettbewerbs, viele Türen geöffnet. Beispielsweise kamen durch Jugend forscht gemeinsame Forschungsprojekte mit Infineon zustande, welche wiederum zu Stipendien für mein Studium in Australien, England, China sowie an der UC Berkeley geführt haben. Auch haben mir meine Jugend forscht-Projekte gezeigt, dass es, gerade in der Informatik, relativ einfach ist, Venture-Kapital zu erhalten und ein Start-up zu gründen, wenn man eine gute Idee hat und diese mit Leidenschaft verfolgt. Daher empfinde ich es als sehr begrüßenswert, dass die Uni Göttingen Gründungsinteressierte engagiert unterstützt und trage hierzu auch gern bei. Aktuell freue ich mich, ein Gründungsvorhaben, das an meinem Lehrstuhl entstanden ist, als Mentor begleiten zu dürfen.
Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Prof. Gipp ist ein Auszug aus dem Jahresbericht 2022 der Universität. Der Jahresbericht mit dem kompletten Text ist auf den Webseiten der Universität verfügbar, das vollständige Interview findet sich dort ab Seite 70.