Sprachethik und die Rolle von Fluchtafeln

Prof. Dr. Susanne Luther

Das Neue Testament und seine antike Umwelt sind Schwerpunkte von Prof. Dr. Susanne Luther, die seit dem Jahr 2020 eine Professur an unserer Universität innehat. Dabei schlägt die Theologin einen Bogen auch in die Kultur- und Sprachgeschichte. Wir haben nachgefragt, was sie bewegt.

Frau Luther, Sie forschen nicht nur zu den Evangelien und anderen Texten des Neuen Testaments, sondern auch zu (Religions)Geschichte, Geschichtsschreibung und Sprachethik. Welche Fragen leiten Sie in Ihrer Forschung?

Ich forsche im Bereich der Texthermeneutik und nehme zwei Dimensionen in den Blick:

Zum einen frage ich danach, wie die Schriften des Neuen Testaments in ihrem antiken Kontext zu verstehen sind, welche Motive und Traditionen sie aus ihrer antiken Umwelt rezipierten und je individuell adaptierten und wie in frühchristlicher Zeit Identität durch Texte geschaffen wurde. Dies geschah zum Beispiel durch die Konstruktion von Geschichte, durch die Einbindung der Jesusgeschichte in die antike Zeitgeschichte, durch die Bezugnahme auf die Geschichte und die Heiligen Schriften Israels, durch die Etablierung ethischer Normen für das Zusammenleben oder durch den Entwurf eigenständiger theologischer Konzepte.

Zum anderen stellt sich immer auch die Frage, wie die für den christlichen Glauben normativen Texte des Neuen Testaments für die heutige Zeit zu interpretieren sind und welche theologischen und ethischen Impulse sie für die Gegenwart bieten. In diesem Zusammenhang interessiert mich zum Beispiel die Frage, welche Normen die neutestamentlichen Schriften in Bezug auf eine Ethik des rechten Sprechens in den Blick nehmen, durch welche literarischen Formen und mit welcher Motivation sie Sprachethik vermitteln und wie diese antiken sprachethischen Argumente und Weisungen für heutige Diskurse fruchtbar gemacht werden können.

Im Fokus der Arbeit an den neutestamentlichen Texten stehen somit immer beide Aspekte, die historische Frage des angemessenen Verstehens der Texte in ihrem antiken Kontext und die theologisch-applikative Frage der Relevanz und Bedeutung der Texte für die Gegenwart.

Sie befassen sich zum Beispiel mit antiken Fluchtafeln, also quasi den Vorgängern der heutigen Hasskommentare. Was können wir aus der Beschäftigung mit diesen Verwünschungen für heute lernen?

In den neutestamentlichen Schriften lassen sich erstaunlich viele Parallelen zur Rhetorik und Motivik griechisch-römischer Fluchtafeln aufweisen. Paulus verwendet etwa in seinen Briefen konditionale Flüche, um bei den Adressat*innen ein bestimmtes Verhalten zu motivieren. Der Apostel kennt zudem die Vorstellung, jemanden an den Satan hinunter- oder in Christus hineinzubinden – wie auch durch antike Verfluchungsformeln der oder die Verfluchte(n) an Gottheiten der Unterwelt hinuntergebunden werden. Und dennoch zeigt sich in den neutestamentlichen Texten eine spezifische Art der Rezeption, die die Verwendung von wirkmächtiger Sprache mit frühchristlichen theologischen und anthropologischen Konzepten verknüpft und ethisch reflektiert.

Auf Basis dieser Befunde ist mit Blick auf die Gegenwart zu fragen: Inwiefern bieten antike Texte eine historische Perspektive, die als Hintergrund für gegenwärtige Diskurse über die Ethik des rechten Sprechens dient? Wie wurde angemessene Sprache in der Antike definiert? Und wie können wir in unserer multikulturellen Gesellschaft, in der unangemessene und anstößige Sprache an der Tagesordnung ist, eine verantwortungsvolle und friedfertige Form der sprachlichen Kommunikation zwischen Gruppen und Gesellschaften fördern? Es bedarf vertiefter Forschung, inwiefern die antiken Grundfragen und Grundlagen der Sprachethik noch heute Impulse für zum Beispiel Medienethik, Wissenschaftskommunikation oder politische Diplomatie bieten.

An der Theologischen Fakultät sind Frauen in der Professor*innenschaft unterrepräsentiert. Was können wir tun, um Frauen für eine Wissenschaftskarriere zu gewinnen und zu fördern?

Hier sind für mich besonders drei Aspekte entscheidend:

Zunächst spielt forschungsorientierte Lehre eine bedeutende Rolle. Wir haben an der Theologischen Fakultät einen hohen Prozentsatz an Studentinnen, die dazu ermutigt werden sollten, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben. Dazu ist es wichtig, Studierende früh an die Forschung heranzuführen und sie in Forschungsprozesse einzubinden.

Für Doktorandinnen und Postdocs ist meines Erachtens Mentoring ein wichtiges Element, das an unserer Fakultät durch regelmäßige Gastvorträge von Wissenschaftlerinnen deutscher und internationaler Wissenschaftsinstitutionen im Rahmen von „Role Model Meetings“ unterstützt wird. Wir sollten Nachwuchswissenschaftlerinnen ermutigen, ihre Forschung auf nationalen und internationalen Konferenzen zur Diskussion zu stellen und sich international breit zu vernetzen. Betreuer*innen von Qualifikationsarbeiten haben hier die Aufgabe, beratend und unterstützend Karriereperspektiven aufzuzeigen und Gestaltungsspielräume für die individuelle Profilierung von Nachwuchswissenschaftler*innen zu eröffnen.

Zudem ist in Hinsicht auf Chancengleichheit auch verstärkt der Aspekt der Diversität in den Blick zu rücken, um gerechte Zukunftschancen für alle Nachwuchswissenschaftler*innen zu gewährleisten. Darüber hinaus hat sich gerade auch in der neutestamentlichen Wissenschaft in den vergangenen Jahren erwiesen, dass der Fokus auf Diversität innovative methodische Zugänge und zukunftsweisende hermeneutische Perspektive bereitstellt, die für Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft neue Wege der kritischen Wahrnehmung und Interpretation antiker Texte eröffnen. In dieser Hinsicht wäre nicht nur aus wissenschaftspolitischen und strukturellen, sondern auch aus fachlichen Gründen die Bedeutung von Diversität zu betonen und innovative Forschung zu Aspekten der diversity zu ermutigen.


Die Universität Göttingen war mit ihrem Gleichstellungszukunftskonzept auch in der dritten Runde des Professorinnenprogramms von Bund und Ländern erfolgreich. Die Fördermittel fließen in Professuren, die mit exzellenten Wissenschaftlerinnen besetzt werden. Die so freigewordenen Eigenmittel investiert die Universität im Gegenzug in die Gleichstellungsarbeit.

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