89 Jahre und ein bisschen weiser: Ein ungewöhnlicher Doktorand legte jetzt seine Disputation an der Göttinger Theologischen Fakultät ab. In einem Alter, in dem andere längst den Ruhestand genießen, wurde der ehemalige Pastor Wolfgang Meißner promoviert.
Die Geschichte dieser Dissertation reicht weit in Meißners eigene Biografie zurück. In der Mitte der 1980er-Jahre war er eine Zeitlang im Archiv der Braunschweigischen Landeskirche tätig. Dort stieß er auf einen unerschlossenen, in Packpapier gelagerten Aktenbestand: Eine beinahe vollständig erhaltene Sammlung von Protokollen der Predigersynoden auf dem Lande im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel aus der Zeit vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Predigersynoden sind Zusammenkünfte von Pfarrern einer Landeskirche, die unter anderem auch der Weiterbildung dienen.
Meißner erschloss das Material und erarbeitete eine mehrbändige Dokumentation. Der damalige Inhaber der Göttinger Professur für Niedersächsische Kirchengeschichte, Prof. Dr. Dr. Hans-Walter Krumwiede ermutigte ihn, das Material in einer Doktorarbeit zu analysieren. Doch erstmal musste Meißner wieder zurück in den Pfarrdienst. Die Arbeit an der Dissertation lag nun brach – für annähernd drei Jahrzehnte. Vor zwei Jahren erinnerte sich Meißner an das Material und setzte sich mit dem gegenwärtigen Inhaber der Professur für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Prof. Dr. Thomas Kaufmann, in Verbindung. In mehreren Gesprächen vereinbarten die beiden eine Strategie für den Abschluss.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Analyse dieses einzigartigen Quellenbestandes gibt Einblick in die Bildungs- und Fortbildungsverhältnisse der ländlichen Geistlichkeit vor allem im 18. Jahrhundert. Ein entscheidender Motor der Dynamik war der landesherrliche Impuls, auch um des Seelenheils der Untertanen willen die Bildungsverhältnisse zu verbessern. Anhand des Materials wird auch deutlich, dass traditionelle dogmatische Formeln und Ideen schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch auf dem Land an Glaubwürdigkeit verloren, womit die Entwicklung eines neuzeitlichen Protestantismus einsetzte. Die Prüfungskommission war mit den Leistungen Meißners auch in der Disputation zufrieden und freute sich den vermutlich ältesten Doktoranden in der Geschichte der Göttinger Theologischen Fakultät promoviert zu haben.