Geschichte der Theologischen Fakultät als Gesamtbild

Der Historiker Dr. Hansjörg Buss hat die Geschichte der Theologischen Fakultät unserer Universität zwischen 1919 und 1949 aufgearbeitet. Er zeichnet ein vielschichtiges Bild der Akteure, Positionen, Konfliktfelder und Spaltungen an der Fakultät sowie des akademischen Alltags unter dem Einfluss sozialer und politischer Herausforderungen. Das Ergebnis liegt nun als Buch im Universitätsverlag Göttingen vor. Es wird am 29. Juni 2022 ab 19 Uhr im Theologicum, Platz der Göttinger Sieben 2, Raum Theo 0.136, vorgestellt. Vorab beantwortet der Dekan Prof. Dr. Peter Gemeinhardt unsere Fragen.

Herr Gemeinhardt, wie kam es dazu, dass die Theologische Fakultät die Aufarbeitung ihrer Geschichte mit einem Stipendium gefördert hat?

Diese Aufarbeitung hat zu lange brachgelegen. Seit den 1980er-Jahren sind wichtige Einzelstudien entstanden, aber den Beteiligten war dabei jedes Mal klar: Es würde Zeit brauchen, alle erreichbaren Archive zu durchforsten und aus den einzelnen Quellen ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Das macht man nicht mal so nebenbei. Darum haben wir ein Stipendium ausgeschrieben, damit sich jemand mit ganzer Kraft für eine bestimmte Zeit dieser Aufgabe widmet und sie auch zu Ende führt. Mit Hansjörg Buss haben wir dafür genau den Richtigen gefunden, und das fertige Buch bietet jetzt für weitere Forschungen – auch im Vergleich zu anderen Fakultäten – eine hervorragende Grundlage.

Der damalige Dekan Emanuel Hirsch versuchte in den 1930er-Jahren eine deutschchristliche Vorzeigefakultät zu erschaffen. Das neue Buch zeigt nun auch die Positionen von Hirschs Kontrahenten auf, benennt institutionelle Kontinuitäten, Konflikte und Zäsuren. Wenn Sie dies mit theologischen Fakultäten anderer Universitäten vergleichen: War die damalige Situation in Göttingen eine besondere?

Ja und nein. Das ungewöhnlich lange Dekanat Hirschs (1933–1939) war eine Sondersituation und für viele Konflikte verantwortlich. Das hat zu Recht schon früh in der Forschung Beachtung gefunden. Das Durchregieren war aber gar nicht so einfach, wie der Vorgang um die rein politisch motivierte, fachlich völlig abwegige Ernennung des Praktischen Theologen Walter Birnbaum zeigt. Was Hirsch und seine Kollegen verband, war das Standesbewusstsein der Ordinarien.

Buss zeigt anschaulich, dass im Kollegium ganz unterschiedliche politische und kirchliche Optionen vertreten wurden, man sich aber an vielen Punkten auch miteinander arrangierte – und das beobachtet man auch an anderen Standorten in jener Zeit. Ganz zutreffend sagt Buss, dass die Fakultät „kaum mehr als eine Arbeits- und Zweckgemeinschaft“ war. Bekennermut sucht man leider ebenso vergeblich wie eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit nach 1945. Buss’ Untersuchung zeigt deutlich, bar jeder Skandalisierung, die Graustufen auf. Und die sind interessant, oft aber auch ernüchternd.

Nach 1945 gab es einen personellen Umbruch, der mit einer Neuausrichtung der Fakultät verbunden war. Was lehrt uns heute der Blick zurück auf die drei Jahrzehnte?

Die Göttinger Fakultät hat damals binnen weniger Jahrzehnte mehrere Umbrüche durchlebt. Das betrifft den Wandel der politischen Systeme und die beiden Weltkriegsniederlagen, aber auch die generationellen und damit auch dispositionellen Veränderungen bei Lehrenden und Studierenden. Der Rückblick lehrt uns ganz trivial, dass wir wissen, wozu welche Prozesse und Entscheidungen geführt haben. Die Zeitgenossen wussten es währenddessen nicht, haben allerdings auch nach 1945 nur in wenigen Fällen bewusst Konsequenzen daraus gezogen.

Der Rückblick lehrt uns aber auch konkret einiges über die Widerständigkeit der Universität gegenüber dem Wechsel der Rahmenbedingungen, im Guten und im Schlechten. Man muss diese verschiedenen Perspektiven zusammenführen, wie es das Buch von Hansjörg Buss vorbildlich tut, und durch individuelle biografische Studien ergänzen, wie es gerade Aneke Dornbusch in ihrer Dissertation über Hermann Dörries getan hat – das fügt sich gut zu der nun vorliegenden Gesamtdarstellung. Vor allem aber lehrt uns der Blick zurück, dass wir mit dieser Phase der deutschen Wissenschaftsgeschichte noch lange nicht fertig sind – und dass als weiteres spannendes Thema die Entwicklungen in der Nachkriegszeit aufzuarbeiten wären.

Prof. Dr. Peter Gemeinhardt

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Hansjörg Buss: Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Universitätsverlag Göttingen 2021, 659 Seiten, ISBN-978-3-86395-527-4, 80 Euro und als kostenloses eBook, https://doi.org/10.17875/gup2021-1821

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