Ronja Demel forscht am Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie der Universität Göttingen in der Abteilung Affektive Neurowissenschaft und Psychophysiologie. Sie ist Doktorandin im Promotionsprogramm „Behavior and Cognition“ und Mitglied der Research Training Group „Understanding Social Relationships“. In der aktuellen Corona-Krise kann sie in der Moralforschung an reale Szenarien anknüpfen.
Für Ihre Dissertation untersuchen Sie, wie Emotionen unsere moralischen Urteile beeinflussen. Was wollen Sie herausfinden?
In der Moralphilosophie und -psychologie gibt es eine lange Tradition, die moralische Entscheidungen und Urteile in rational kognitiven Prozessen gründen. Mittlerweile gibt es vermehrt Modelle, die die Wichtigkeit von Emotionen betonen. Nach wie vor ist aber noch nicht klar, inwiefern Emotion oder Rationalität ein moralisches Urteil begründen, ob es eine sequentielle Abfolge oder parallele Prozesse gibt und inwiefern sich Emotion und Rationalität gegenseitig beeinflussen. In meiner Dissertation untersuche ich mit verschiedenen Methoden, darunter EEG, ob moralische Informationen zu einer Person, die von den Proband*innen negativ oder positiv wahrgenommen wird, Aufmerksamkeitsprozesse beeinflussen. Zusätzlich interessiert mich, inwiefern Persönlichkeitsvariablen wie die Empathiefähigkeit oder die politische Einstellung einer Person deren moralische Urteile beeinflusst.
Die aktuelle Corona-Pandemie ist für Politik, Gesundheitswesen und Gesellschaft in Deutschland eine Ausnahmesituation. Vor welchen moralischen Dilemmata stehen wir derzeit?
Eine große Kritik an der Moralforschung lautet, dass mit fiktiven und abstrakten Dilemmas oder Situationsbeschreibungen gearbeitet wird. Aktuell stellen sich plötzlich eine Vielzahl ganz realer Dilemmas, über die politisch und gesellschaftlich entschieden werden muss. Ein sehr trauriges Beispiel, das mittlerweile zumindest in Italien Realität geworden ist, ist die Triage: Nach welchen Kriterien werden Menschen ausgewählt, die lebensnotwendige Maßnahmen wie Beatmung erhalten, wenn der Bedarf an akuten Behandlungen die Möglichkeiten übersteigt? Ein anderes Beispiel aus unserem Alltag ist die Frage, inwiefern es gerechtfertigt ist, für den eigenen Bedarf Lebensmittel und Hygieneartikel in größeren Mengen zu besorgen, wenn es dadurch zu einer Knappheit für andere kommt. Eine eher wirtschaftliche Frage ist, inwiefern es moralisch vertretbar ist, dass zum Beispiel Hersteller medizinisch relevanter Produkte jetzt ihre Preise erhöhen und sich damit der gestiegenen Nachfrage anpassen.
Diese und andere Fragen haben auch unsere Forschungsgruppe nicht losgelassen, weswegen wir kurzerhand beschlossen haben, eine Moralstudie zu Corona online durchzuführen. In der Studie erfassen wir, wie Menschen in diesen konkreten moralischen Situationen entscheiden würden und wie diese Entscheidungen zum Beispiel von der Angst vor Corona oder der eigenen Betroffenheit durch Alter oder Vorerkrankungen beeinflusst wird. Die Erhebung findet in drei Ländern parallel statt, die besonders hart von der Krise betroffen sind, und erlaubt uns einen kulturübergreifenden Vergleich. Die erste Befragungsrunde ist bereits abgeschlossen und wir freuen uns sehr, dass über 2.500 Menschen daran teilgenommen haben.
Unser alltägliches Leben ist im Moment stark eingeschränkt. Obwohl dies in vieler Hinsicht eine Belastung ist, zieht die Bevölkerung mit. Bietet die Moralforschung hierfür Erklärungsansätze?
Ich bin hier tatsächlich einer etwas anderen Meinung. Wir haben zu Beginn der Epidemie in Deutschland eine große Welle der Solidarität erlebt, bei der viele Menschen konsequent „Social Distancing“ umgesetzt haben, auch bei eigenen teils sehr großen Verlusten. Es werden aber nun immer mehr Stimmen laut, dass auch die wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen der Bürger*innen berücksichtigt werden müssen. Das ist eine interessante Entwicklung, auch aus moralpsychologischer Perspektive. Eine Frage, die sich nun ganz akut gesellschaftlich und politisch stellt, ist, inwiefern Social Distancing-Maßnahmen für eine gesamte Gesellschaft mit potenziell großen wirtschaftlichen Verlusten gerechtfertigt sind, um diejenigen Menschen mit einem hohen Risiko zu schützen.
Meine Hoffnung ist, dass wir durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf zukünftige Krisensituationen besser vorbereitet sind. Denn neben der Forschung an Medikamenten und Impfstoffen gegen Corona ist es auch wichtig, die psychologischen und sozialen Folgen zu verstehen, um in zukünftigen Krisen adäquat darauf reagieren zu können. Wir hoffen, hierzu einen Beitrag leisten zu können.