Krimis sind im Buchhandel gefragt und im Fernsehen beliebt. Auch über reale Verbrechen wird regelmäßig in den Medien berichtet. Leben wir in weniger sicheren Zeiten? Der Kriminalwissenschaftler Prof. Dr. Jörg-Martin Jehle, Emeritus der Universität Göttingen, sagt: Nein, die Lage hat sich eher entspannt. Einen interdisziplinären Blick auf das Verbrechen bietet das von ihm herausgegebene Buch „Das sogenannte Böse“. Es vereint die Beiträge der gleichnamigen Ringvorlesung im Sommersemester 2019, die nun noch einmal nachgelesen werden können.
Jehle gibt darin Einblicke in die Kriminalstatistik; gleichzeitig erklärt er sein Fachgebiet: Die Kriminologie analysiert, welche Verhaltensweisen der Gesetzgeber (ent)kriminalisiert, ob strafrechtliche Maßnahmen greifen und was Polizei, Justiz und Vollzug tun. Zudem fragt sie nach sozialen und persönlichen Zusammenhängen, den Folgen für Opfer und Täter und nach Möglichkeiten der Prävention. Den Begriff „das Böse“ kennt sie aber nicht.
Stattdessen greift der Titel den eines Werkes von Konrad Lorenz auf. Die darin von Lorenz‘ vertretenen Thesen zur Naturgeschichte der Aggression sind aber im Licht moderner evolutionsbiologischer Aggressionsforschung nicht mehr haltbar, wie Dr. Dietmar Zinner vom Deutschen Primatenzentrum in seinem Beitrag aufzeigt.
Die Göttinger Philologin Prof. Dr. Franziska Meier sucht in der Literatur nach dem Bösen in uns. Ihr Streifzug reicht von Augustinus‘ Lust am Verbotenen über das Böse als Abdriften vom rechten Weg in Dantes „Göttlicher Komödie“ bis zur Perversheit als Triebfeder des Bösen bei Edgar Allan Poe. Am Beispiel von Hannah Arendt und Primo Levi zeigt sie schließlich auf, wie nach 1945 „das Böse“ zu einer Denkkategorie aus der Perspektive der Opfer und in der Vergangenheitsbewältigung wird.
Weitere Beiträge thematisieren den Umgang mit Sündern und (weltlichen) Verbrechern, beleuchten Fragen der Forensischen Psychiatrie und präsentieren Erkenntnisse aus der Kriminalsoziologie, der -ökonomie, der Forschung zu Frauen im Strafvollzug sowie zum Spannungsfeld von Freiheitslehre, Vergeltung und Strafe. Und was fasziniert uns so am Verbrechen? Es ist nicht nur der Nervenkitzel, wie die Potsdamer Sozialpsychologin Prof. Dr. Barbara Krahé in ihrem Beitrag über die mediale Darstellung von Gewalt und deren Wirkung zeigt.
Jörg-Martin Jehle (Hrsg.): Das sogenannte Böse. Das Verbrechen aus interdisziplinärer Perspektive, Nomos Verlag 2020, 342 Seiten, ISBN 978-3-8487-7815-7, 74 Euro, www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7815-7