Schule und Corona

Am 16. Juli beginnen in Niedersachsen die Sommerferien. Sie beenden ein außergewöhnliches Schuljahr, das Schüler*innen und ihre Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und die Bildungsverwaltung vor bisher unbekannte Herausforderungen gestellt hat. Grund genug für einen kurzen Rück- und Ausblick mit Prof. Dr. Ariane S. Willems, Inhaberin des Lehrstuhls für Empirische Bildungsforschung an der Universität Göttingen.

Kinder und Jugendliche haben in Deutschland ein staatlich garantiertes Recht auf Bildung. Seit Mitte März jedoch fand – bedingt durch die Corona-Pandemie – Schule bundesweit nicht mehr im Regelbetrieb statt. Stattdessen wurden Schüler*innen ins sogenannte „Home-Schooling“ geschickt und das Lernen fast vollständig in das private Umfeld der Familien verlagert. Die Folgen davon waren in den letzten Wochen zu beobachten: Unsicherheiten auf Seiten der Schüler*innen und Lehrkräfte, eine unzureichende technische Ausstattung für den nötigen Fernunterricht, nicht selten überforderte Eltern, die sich zwischen Arbeit, familiären Bedürfnissen und schulischen Anforderungen aufgerieben sahen und bisweilen unklare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten in der Koordination. Waren Deutschlands Schulen für eine solche Krisensituation schlecht vorbereitet?

Die Corona-Pandemie hat uns als Gesellschaft vor enorme und in dieser Form bisher nicht gekannte Herausforderungen gestellt. Das trifft natürlich auch auf den schulischen Bildungsbereich zu.

In der Bundesrepublik Deutschland steht das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates (Artikel 7, GG), dem zugleich die Verpflichtung zukommt, allen Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung zu gewährleisten. Das Instrument zur Durchsetzung dieses Rechts auf Bildung ist hierzulande die gesetzlich verankerte Allgemeine Schulpflicht. Aus dieser Pflicht für Kinder und Jugendliche leitet sich im Gegenzug die Beschulungspflicht für den Staat ab: Dieser muss sicherstellen, dass alle Schulpflichtigen eine öffentliche Schule besuchen können oder – in Zeiten, in denen der schulische Präsenzunterricht nicht oder nur eingeschränkt möglich ist – an einem adäquaten Ersatzangebot teilnehmen können. Dies ist in der aktuellen Situation ohne Frage eine enorme Herausforderung.

Wir haben im vergangenen Schulhalbjahr gesehen, dass Schulen und Lehrkräfte mit ganz unterschiedlichen Maßnahmenpaketen auf diese Herausforderung reagiert haben. Quantität und Qualität der Lernangebote haben sich dabei aus ganz unterschiedlichen Gründen erheblich zwischen Schulen und Lehrkräften unterschieden. Durch die fast vollständige Verlagerung des Lernens in das häusliche Umfeld hängt der Lernerfolg dabei zur Zeit in einem noch größeren Ausmaß als zuvor bereits von den Möglichkeiten der einzelnen Familie ab. Hierzu zählen zum Beispiel die Verfügbarkeit eines ruhigen Ortes zum Lernen, die technische Infrastruktur oder die fachliche und lernorganisatorische Unterstützung durch die Eltern. Diesem Zustand muss schnellstmöglich entgegengewirkt werden, um bestehende Bildungsungleichheiten nicht noch größer werden zu lassen.

Auch die Schulen hat die Corona-Pandemie im Frühjahr mit einer Wucht erfasst, auf die sie nicht angemessen vorbereitet waren. Entscheidend ist aber, wie wir das kommende Schuljahr und die Zeit darüber hinaus organisieren. Denn bei allem was wir an wissenschaftlichen Erkenntnissen haben, müssen wir davon ausgehen, dass uns die Pandemie noch einige Zeit begleiten wird. Das Recht auf Bildung für alle Schüler*innen muss wieder angemessen verwirklicht werden und die Institution Schule muss ihrer gesellschaftlichen Funktionen und ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag wieder nachkommen können. Wir müssen daher auch alternative Wege finden, Schule und Unterricht für alle Schüler*innen unter den neuen Bedingungen erfolgreich zu gestalten. Ohne Kompromisse auf allen Seiten wird es dabei aber vermutlich nicht gehen. Das zurückliegende Schulhalbjahr hat meiner Erfahrung nach – bei allen Schwierigkeiten und Verunsicherungen – auch viel Engagement und eine Fülle an kurzfristigen, kreativen und effektiven (Einzel-)Lösungen hervorgebracht. Es gilt, diese jetzt zu systematisieren, weiterzuentwickeln und durch zentrale Qualitätssicherungsmaßnahmen zu flankieren – auch durch den Einsatz zusätzlicher zentraler finanzieller und personeller Mittel. So wie die Schüler*innen verbindliche fachliche und pädagogische Unterstützung durch qualifizierte Lehrkräfte benötigen, so brauchen Schulen mehr denn je verlässliche Rahmenbedingungen und eine zielgerichtete Unterstützung durch die Bildungspolitik und -administration.

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Schule soll Kinder und Jugendliche qualifizieren und auf das Berufsleben vorbereiten. Zugleich ist Schule ein gesellschaftlicher Sozialisationsort, der die Bildung einer eigenständigen Persönlichkeit unterstützen und die Erfahrungen eines demokratischen Miteinanders fördern soll. Was davon konnte in der Corona-Zeit eingelöst werden?

Gerade zu Beginn der flächendeckenden Schulschließungen im Frühjahr fokussierten die Bemühungen von Bildungspolitiker*innen, Schulleitungen und Lehrkräften darauf, die Qualifikations- und Selektionsfunktion von Schule auch in Zeiten der Pandemie aufrecht zu erhalten. So wurden verständlicherweise zunächst Lösungen für die unmittelbar anstehenden Prüfungs- und Leistungsbewertungsverfahren oder die Versetzungen von Schüler*innen erarbeitet. Schule ist aber eben nicht ausschließlich Lernraum sondern auch Lebensraum für Kinder und Jugendliche. Hier verbringen sie einen nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit, treffen Freunde, verhandeln Normen und Werte oder tragen Konflikte aus.

Schulen sollen nicht nur Wissen vermitteln und fachliche Kompetenzen fördern, sondern auch überfachliche, personale Fähigkeiten der Heranwachsenden stärken. Gerade diese Bildungsziele drohen in Zeiten, in denen Schulen weitestgehend geschlossen sind, Präsenzunterricht gar nicht oder nur sporadisch stattfinden kann und der Austausch von Schüler*innen und Lehrkräften weitgehend digital und asynchron stattfindet, in den Hintergrund zu treten. Gerade für Schüler*innen, die nicht in einem sicheren häuslichen Umfeld aufwachsen, ist eine verlässliche Vertrauens- und Ansprechperson in der Schule unerlässlich.

Meine Erfahrung ist allerdings, dass Lehrkräfte dies durchaus im Blick haben und dazu bereits wirksame Angebote entwickelt haben. Um diese auch im kommenden Schuljahr weiterhin umsetzen zu können, setzen einige Schulen gezielt auf eine Aufgabenteilung der Lehrkräfte: Während ein Teil der Lehrkräfte für die Aufrechterhaltung eines reduzierten Präsenzangebotes verantwortlich ist, kümmern sich andere um die Entwicklung digitaler Angebote oder um die eher soziale Einbindung, Betreuung und Beratung der Schüler*innen. Auch hier werden wir auf absehbare Zeit Lösungen erarbeiten müssen, die jenseits des bisher Praktizierten liegen – was im Übrigen auch gar nicht unbedingt schlecht ist. Ich bin aber zuversichtlich, dass dies den Schulen gelingen wird.

Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierte Kommission hat kürzlich Empfehlungen für das Schuljahr 2020/2021 vorgelegt. Darin mahnen die Bildungsforscher*innen an, sich vorzubereiten, um schnell und verlässlich auf die sich jeweils stellende Pandemiesituation reagieren zu können. Sollten die Kultusministerien verbindliche Standards für alle Schulen festlegen? Und welche Ressourcen müssten Schulen und Lehrkräften hierfür zur Verfügung gestellt werden?

Der Schul- und Unterrichtsbetrieb wird zum Schutze aller in den nächsten Monaten unter strengen Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen organisiert werden müssen. Auch wenn ein „Normalbetrieb“ aller Voraussicht nach für längere Zeit nicht möglich sein wird, sollte es aus meiner Sicht das Ziel sein, eine rasche und sichere Rückkehr in die Schule und eine verlässliche Unterrichtsorganisation zu ermöglichen. Mit Blick auf die Bedingungen vor Ort werden sich die Einzelschulen hier stark unterscheiden. Einen verbindlichen Rahmen zu schaffen, in dem das Austarieren von Stabilität und Flexibilität möglich wird, stellt dabei eine zentrale Aufgabe für die kommenden Wochen dar. Im Zentrum der Bemühungen sollten dabei Fragen der inhaltlichen, didaktischen und organisatorischen Gestaltung eines hochwertigen, verzahnten Präsenz- und Fernunterrichts und der begleitenden Lernzielkontrolle stehen. Schulen werden dabei parallel Konzepte entwickeln müssen, in denen Präsenz- und Fernunterricht in unterschiedlichem Ausmaß berücksichtigt werden, um auch während des laufenden Schuljahres falls nötig zwischen verschiedenen Modellen wechseln zu können. 

Wie die Kolleg*innen der Expert*innenkommission der Friedrich- Ebert-Stiftung befürworte auch ich die kurzfristige Erarbeitung verbindlicher Standards durch die zuständige Schulaufsicht. Auf der Grundlage zentraler Mindestanforderungen sollten Schulen den Präsenz- und Fernunterricht wieder nach festen Wochen- oder Stundenplänen durchführen. Besonders dringlich erforderlich dafür ist eine zentrale ausgearbeitete Kürzung der Lehrpläne beziehungsweise der Leistungsziele aller Fächer und Schulformen. Eine inhaltliche Kürzung sollte dabei nicht zu Lasten einzelner Fächer oder gar der Qualität schulischer Bildung insgesamt führen. Diese Aufgabe kann nicht in der Verantwortung der Einzelschule oder individueller Lehrkräfte liegen, sondern muss zügig und in Absprache zwischen der KMK und den Ländern erfolgen.

Schließlich erfordern ein veränderter Präsenz- und Fernunterricht eine neue (digitale) Infrastruktur, die auf Basis von Ausstattungsstandards länderübergreifend abgestimmt werden sollte. Nicht nur Schüler*innen müssen über geeignete Endgeräte verfügen. Auch für Lehrkräfte gehört adäquate Hard- und Software zu einer beruflichen Grundausstattung. Es müssen Angebote geschaffen werden, um Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Tools zu qualifizieren und sie – zum Beispiel bei technischen und datenschutzrechtlichen Fragen – zu unterstützen. Auf Seiten der Schüler*innen sollte die Förderung digitaler Kompetenzen ebenso systematisch gestärkt werden, wie die Vermittlung metakognitiver Kompetenzen. Denn um den Fernunterricht erfolgreich meistern zu können, müssen Schüler*innen ihr Lernen stärker als bisher selbst planen, organisieren und steuern. Dabei benötigen vor allem jüngere und leistungsschwächere Schüler*innen professionelle Unterstützung.  

Bei allen Bemühungen bleibt es entscheidend, dass alle Schüler*innen – unabhängig von ihren herkunftsbedingten Voraussetzungen – zukünftig wieder verlässlich Zugang zu einem qualitativ hochwertigen Lernangebot erhalten. Auch die Verbindlichkeiten, die nicht nur auf Seiten der Schulen und Lehrkräfte bestehen, sondern auch auf Seiten der Schüler*innen müssen wiederhergestellt und eingefordert werden.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Forschungsstudien zum Thema:

https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/05/Vodafone-Stiftung-Deutschland_Studie_Schule_auf_Distanz.pdf

https://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/fakultaet/Institute/erziehungswissenschaft/Schulpaedagogik/ICILS_2018__Deutschland_Presseinformation.pdf

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