Corona-Krise in Schlachtereien

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SOFI-Studie zeigt Dringlichkeit arbeits-, sozial- und aufenthaltsrechtlicher Reformen

Infektionsfälle in Schlachtereien in Coesfeld und anderen Städten haben aktuell auch die Bedingungen für dort beschäftigte Migrant*innen zum Thema gemacht. Eine Forschungsgruppe des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) hat zwischen 2017 und heute etwa 50 qualitative Interviews mit Beschäftigten aus einem Dutzend niedersächsischen Unternehmen der Fleischindustrie durchgeführt. Die Gespräche thematisieren die Arbeitssituation in der Branche, von der Schlachtung und Zerlegung in der Verarbeitung von Schweinen bis hin zur Industriereinigung bei Geflügelschlachtern. Zusätzlich wurden Unternehmen besichtigt und Gespräche mit Management, Gewerkschaften und Beratungsstellen geführt. Dr. Peter Birke (SOFI und Universität Göttingen)  über die Resultate.

In den Texten, die die Forschungsgruppe des SOFI bislang veröffentlicht hat, berichten Sie über die Arbeitsbedingungen in der Schlacht- und Zerlegeindustrie. Wie würden Sie die Befunde zusammenfassen?

Die Resultate der Untersuchung, die meine Kolleg*innen Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Dr. Felix Bluhm, Janos Mertin und ich durchgeführt haben, zeigen, dass schwere Arbeitsunfälle, extrem lange Arbeitszeiten und illegale Abzüge bei den Löhnen in der Fleischindustrie leider schon sehr lange zum Alltagsgeschäft gehören. Auch die in der aktuellen Krise kritisierten prekären Wohnbedingungen sind keineswegs neu. Die Diskussion bietet daher die Chance, endlich die schon seit langem kritisierten Bedingungen für Arbeitende in der Fleischindustrie zu verbessern.

Ist das durch das Bundeskabinett am 20. Mai beschlossene Verbot der Werkverträge da der richtige Weg?

Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Denn das System der Werkverträge ist eine Art organisierte Verantwortungslosigkeit: Die Auftraggeber können immer darauf verweisen, dass Verstöße gegen Arbeits- und Gesundheitsschutz oder illegale Lohnabzüge nicht in ihrer Verantwortung liegen. Und die Werkvertragsunternehmen wiederum verweisen auf die Preispolitik der Auftraggeber. So wird der Ball hin- und her gespielt, und die Verstöße gegen Arbeitnehmerrechte bleiben unangetastet. Wenn das gesagt ist, muss aber auch gesagt werden, dass fehlende Ansprüche von Unionsbürgern auf Leistungen der Sozial- und Krankenversicherung den Zwang zur Arbeitsaufnahme verstärken und dazu beigetragen haben, dass die Situation für ost- und südosteuropäische Migrant*innen prekär ist. Für Menschen aus Drittstaaten hat zudem die Notwendigkeit, Erwerbsarbeit zu jeglichen Bedingungen anzunehmen, um den Aufenthalt in Deutschland zu sichern, zu einer Verwundbarkeit beigetragen, die aktuell durch zusätzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erhöht wird.

Was kann oder muss über die Entprekarisierung der Beschäftigten hinaus für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen unternommen werden?

Eine Verbesserung der Rechtsposition von Migrant*innen ist aus unserer Sicht ebenso dringlich wie das anvisierte Verbot der Werkverträge. Aktuell würde eine unbürokratische und sanktionsfreie Gewährung von Leistungen der Grundsicherung sowie ein Zugang zu Wohnraum und Gesundheitsversorgung oft schon sehr viel helfen. Und unsere Studie zeigt auch, wie wichtig der Zugang zu Informationen und Unterstützung bei Ämtergängen ist: Wie sich zuletzt angesichts der Proteste von Erntearbeiter*innen in Bornheim bei Bonn gezeigt hat, können die Arbeitenden sich schon um ihre Anliegen kümmern und selbst für ihre Rechte eintreten. Das Bild des wehrlosen Opfers ist insofern falsch, aber Beratung durch Einrichtungen wie „Faire Mobilität“ oder die „Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg“ wird von den von uns Befragten als ebenso wichtig wahrgenommen wie das Vorhandensein sozialer Rechte als solches. Deshalb muss aus unserer Sicht das Beratungsangebot ausgeweitet werden, ebenso wie ein ständiges Monitoring der Arbeits- und Lebensbedingungen in der niedersächsischen Fleischindustrie notwendig ist.

Zum Autor
Dr. Peter Birke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Göttingen mit den Schwerpunkten Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft. Zum Thema „Migration und Arbeit“ arbeitet er eng mit dem Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), einem assoziierten Partner des Göttingen Campus, zusammen. Zu seinen in Kooperation mit dem SOFI gehörenden Projekten zählt „Refugees@work. Perspektiven der betrieblichen Integration von Flüchtlingen in Niedersachsen“. Hier forscht Peter Birke gemeinsam mit Prof. Dr. Nicole Mayer Ahuja, Professorin für Soziologie an der Universität Göttingen und Direktorin des SOFI sowie den SOFI-Mitarbeitern Dr. Felix Bluhm, Thomas Stieber (M.A.) und Janos Mertin:
http://www.sofi.uni-goettingen.de/de/projekte/refugeeswork-perspektiven-der-betrieblichen-integration-von-fluechtlingen-in-niedersachsen/projektinhalt/

Von Peter Birke und Dr. Felix Bluhm sind jüngst die Publikationen „Migrant Labour and Workers‘ Struggles: The German Meatpacking Industry as Contested Terrain“ (2020) und „Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit“ (2019) erschienen:
https://mulpress.mcmaster.ca/globallabour/article/view/3875
https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00070543

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