Alte Schriften, Wissens- und Kulturaustausch

Dr. Anna Dorofeeva – Foto: Institut für Digital Humanities

Die Paläografie ist die Lehre von alten Schriften. Auf diesem Gebiet forscht die Historikerin Dr. Anna Dorofeeva vom Institut für Digital Humanities der Universität Göttingen – in erster Linie an frühmittelalterlichen Büchern und Schriften. Dabei geht es insbesondere um Fragen rund um professionelle Schreiber – wie sie neue Schriften gelernt und miteinander gearbeitet haben – sowie um digitale und computergestützte Methoden in Studium und Lehre ihres Fachgebiets. Mit einem Teilprojekt ist sie an einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) der University of Leicester beteiligt. Im Projekt INSULAR sollen rund 850 Handschriften mit Schreib-, Dekorations- und Pergamentstilen untersucht werden, die zwischen etwa 600 und 900 nach Christus in Irland und England sowie später auch auf dem europäischen Kontinent verwendet wurden.

Frau Dorofeeva, ihr Fachgebiet ist die digitale Paläografie. Worum geht es dabei genau?

Paläografie ist die Wissenschaft von den Formen und Mitteln sowie der Entwicklung der im Altertum und Mittelalter gebräuchlichen Schriften. Paläografisches Fachwissen ist für die Geschichtswissenschaften von entscheidender Bedeutung: Oft ist es die einzige Möglichkeit festzustellen, wo, wann und von wem ein Dokument oder eine Handschrift angefertigt wurde, und es ermöglicht Wissenschaftler*innen, unlesbare Texte zu entschlüsseln. Die digitale Paläografie nutzt computergestützte Tools, um diese Ziele zu erreichen und um Fragen zu beantworten, die mit traditionellen Methoden nicht beantwortet werden können. Dazu gehört beispielsweise die Verwendung von multispektraler Bildgebung, um Palimpseste – das sind Dokumente mit mehr als einer Textebene – oder andere Quellen mit fehlendem oder beschädigtem Text zu lesen. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz künstlicher Intelligenz, um aus Millionen digitaler Bilder mittelalterlicher Handschriften aussagekräftige Informationen, einschließlich Informationen über das Layout, abzuleiten. Ein drittes Beispiel ist das Sammeln, Bereinigen und Verarbeiten großer Mengen von Textdaten, um zu untersuchen, wie die Menschen in der Vergangenheit Schrift verstanden haben.

Im ERC-geförderten Projekt INSULAR will das Forschungsteam Unterschiede zwischen Handschriften, die auf den Inseln geschrieben oder auf dem Kontinent hergestellt wurden, ermitteln und den Austausch von Wissen, Gegenständen und Menschen zwischen Großbritannien, Irland und Kontinentaleuropa untersuchen. Was versprechen Sie sich davon?

Die Themen, die unserem frühmittelalterlichen Datensatz zugrunde liegen, sind aktuell: Konnektivität, Identität und Mobilität – von Wissen, Technologie und Menschen. Im frühen Mittelalter gab es einen regen kulturellen und intellektuellen Austausch zwischen Menschen, die zwischen Europa und den Inseln reisten. Durch den Einsatz eines innovativen digitalen Instrumentariums und bahnbrechender bio-kodikologischer Methoden zum Beispiel aus der „ancient DNA“-Forschung sowie Instrumenten aus der Paläografie, Handschriftenkunde und Kunstgeschichte werden wir den Beitrag der britischen und irischen Inseln zur intellektuellen Gemeinschaft und materiellen Kultur des frühmittelalterlichen Europas im Zeitalter Karls des Großen untersuchen. Unser Ziel ist es, zum ersten Mal den gesamten Korpus insularer Handschriften zu analysieren, Unterschiede zwischen den auf den Inseln und den auf dem Kontinent entstandenen Handschriften festzustellen und den Austausch von Wissen, Gegenständen und Menschen im Frühmittelalter auf neue Weise zu untersuchen.

Für Ihr Teilprojekt fließen rund 550.000 Euro aus der ERC-Förderung an die Universität Göttingen. Was wollen Sie hier erforschen?

In den nächsten fünf Jahren wird unser Team in Göttingen eine umfassende, frei zugängliche Datenbank aller Handschriften in insularer Schrift erstellen, die in der Zeit vor 900 nach Christus geschrieben wurden. Darüber hinaus wird sich unser Teilprojekt auf zwei verschiedene Forschungsbereiche konzentrieren: In einer umfassenden paläografischen Untersuchung werde ich die Praktiken des Schreibens von insularen Schriften im fränkischen Reich erforschen, einschließlich der Rolle von Meisterschreibern, der Beziehung zwischen insularen und karolingischen Schriften und der Bedeutung des großen Skriptoriums im Kloster Werden. Mein Ziel ist es, ein Modell für die Evolution der Schrift auf beiden Seiten des Ärmelkanals über den gesamten Zeitraum der Schriftinteraktion zu entwickeln. Der zweite Forschungsbereich wird von einer neuen Kollegin geleitet, die insulare Handschriften analysieren wird, die germanische Glossen enthalten. Dies wird es uns ermöglichen, den Beitrag des insularen Missionsfeldes zur frühen Schrift in der Volkssprache in den später deutschsprachigen Ländern besser zu verstehen.

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