Bei Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegt auch an Universitäten häufig der Fokus auf der Kinderbetreuung. Wie aber wirkt es sich aus, wenn Wissenschaftler*innen erwachsene Angehörige pflegen? Was bedeutet dies für das Wohlbefinden, den Forschungs- und Arbeitsalltag sowie die Karriereentwicklung? Um dies herauszufinden, hat die Universität Göttingen eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse nun vorliegen. Ein Kurzbericht und der ausführliche Abschlussbericht sind unter www.uni-goettingen.de/de/651786.html zu finden.
Wie relevant das Thema ist, zeigt sich allein schon darin, dass sich rund ein Drittel des wissenschaftlichen Personals, also 967 Wissenschaftler*innen, an der Online-Erhebung beteiligt haben. Aus der Statusgruppe Professor*innen nahmen knapp zwei Drittel teil.
Bereits rund die Hälfte der Befragten trugen oder tragen Pflege- und/oder Sorgeverantwortung in unterschiedlicher Form. 16 Prozent der Befragten pflegen aktuell erwachsene Angehörige; weitere 15 Prozent der Befragten erwarten mit großer Wahrscheinlichkeit, dass sie in den nächsten Jahren erstmals eine bedeutsame Pflegeverantwortung übernehmen werden und weitere 36 Prozent schätzen, dass eine solche Verantwortung möglicherweise das erste Mal für sie eintreten wird.
Befragte mit Pflegeverantwortung unterstützen Angehörige durchschnittlich in einem Umfang von 6,6 Stunden pro Woche und tun dies häufig an einem anderen Ort als an ihrem Wohnort. Fast die Hälfte von ihnen tragen die Hauptverantwortung, entweder für die konkrete Unterstützung und Pflege oder für die Organisation dieser Aufgaben. Die Pflegeverantwortung beeinträchtigt das körperliche und psychische Wohlbefinden, ist mit einem erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand und einer hohen mentalen Belastung verbunden.
Wie ist diese Situation mit einer wissenschaftlichen Tätigkeit vereinbar? Viele lösen dies über lange Arbeitstage. Die Studie kommt zu dem Schluss: „Bestehende Strukturen und Maßnahmen aus dem Handlungsfeld Sorge für Kinder sind nicht übertragbar auf die komplexen und hoch individualisierten Pflegesituationen des wissenschaftlichen Personals.“ Als wichtigste Maßnahmen empfiehlt sie, Arbeitszeit und -ort weiter zu flexibilisieren sowie die pflegenden Beschäftigten zum Beispiel durch Freistellung, Deputatsreduzierung und studentische Hilfskräfte weiter zu entlasten. Zudem sei die Schaffung einer zentralen Stelle für das Handlungsfeld „Pflege“ als Zukunftsstrategie sowie eine Veränderung der wissenschaftlichen Arbeitskultur notwendig. „Auf dieser Grundlage wollen wir nun Maßnahmen entwickeln und wo möglich umsetzen“, sagt Renate Putschbach vom FamilienService der Stabsstelle Chancengleichheit und Diversität.
Die Studie „Balancierung von Wissenschaft und Pflege (BAWIP)“ wurde aus Mitteln des Professorinnenprogramms III finanziert und von Prof. Dr. Inken Lind von der TH Köln durchgeführt. Der Online-Erhebung in der Gruppe des wissenschaftlichen Personals im Sommer 2022 folgten 16 Interviews mit steuernden Akteur*innen der Universität.