Armut ist eine der Hauptursachen von Hunger und Mangelernährung in der Welt. Entwicklungsökonomen unserer Universität haben gemeinsam mit dem Hilfswerk Misereor berechnet, wieviel Geld Menschen fehlt, um sich das Mindestmaß einer ausgewogenen Ernährung leisten zu können. Wir haben bei Jonas Stehl von der Professur für Entwicklungsökonomik, Centre für Modern Indian Studies (CeMIS) nachgefragt.
Herr Stehl, es gibt bereits den Welternährungsbericht der Vereinten Nationen. Sie haben nun die „Armutslücke gesunder Ernährung“ neu berechnet. Warum?
Im Welternährungsbericht der Vereinten Nationen werden seit 2020 Daten zu den Kosten einer gesunden Ernährung und zur Anzahl der Menschen weltweit bereitgestellt, die sich diese gesunde Ernährung nicht leisten können. Dadurch wissen wir jedoch nicht, wie weit eine Person von der Erreichbarkeit einer solchen Ernährung entfernt ist. Es könnte jemandem nur an 5 Cent oder sogar an 10 Euro fehlen, um sich gesund ernähren zu können. Unsere Erweiterung der bisherigen Indikatoren geht daher über eine einfache binäre Klassifizierung hinaus und bietet Einblicke in die Schwere der Armut.
In Subsahara-Afrika lassen sich beispielsweise erhebliche Unterschiede feststellen. Obwohl dort etwa 60 Prozent der Armen wohnen, macht diese Region „nur“ 40 Prozent der Armutslücke aus. In Indien können sich zwar viele Menschen keine gesunde Ernährung leisten, aber im Grunde genommen fehlt ihnen pro Person nicht viel Geld. Im Gegensatz dazu ist die Anzahl der Menschen in Madagaskar, die sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können, relativ niedrig, aber der finanzielle Abstand zur Erreichbarkeit einer solchen Ernährung ist dort sehr groß.
In unserem Diskussionspapier stellen wir außerdem zusätzliche Szenarien vor, in denen wir von den teilweise recht strengen Annahmen des UN-Berichts abweichen. Zum Beispiel wird darin angenommen, dass ein 5jähriges Mädchen die gleiche Menge an Nährstoffen benötigt, wie ein 30-jähriger Mann oder dass alle einkommensschwachen Menschen weltweit 52 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. In unserer Studie berücksichtigen wir potenzielle Unterschiede und Variationen in diesen Annahmen.
Besonders viele Menschen in Indien, Nigeria und Indonesien sind von der Armutslücke betroffen. Auch in anderen Ländern ist die Armutslücke so groß, dass sie von diesen durch die eigene Wirtschaftskraft nicht zu schließen ist. Was sind zentrale Ergebnisse der Studie?
Wir kommen im Wesentlichen zu zwei zentralen Ergebnissen. Erstens fehlt der Weltbevölkerung insgesamt eine beeindruckende Summe von 3 Billionen US-Dollar, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Auf den ersten Blick mag diese Zahl enorm erscheinen, aber wenn wir sie ins Verhältnis setzen, relativiert sich die Größenordnung. Dies entspricht etwa 2,2 Prozent des globalen Einkommens oder lediglich 1,9 Prozent des Vermögens aller Millionär*innen undMilliardär*innen weltweit.
Nun wirkt sich Mangelernährung auch auf die individuelle physische und kognitive Funktionsfähigkeit aus und beeinträchtigt somit die Produktivität am Arbeitsplatz und in der Schule. Im schlimmsten Fall kann sie zu schweren Krankheiten oder sogar zum Tod führen. Neben der intrinsischen Motivation, diese negativen Auswirkungen zu verhindern, ergeben sich erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft in Form von Produktivitätsverlusten. Eine Studie schätzte die wirtschaftlichen Verluste durch Unterernährung auf 3,5 Billionen US-Dollar pro Jahr, was sogar die von uns berechnete Lücke übertrifft. Dies verdeutlicht, dass Investitionen in die Schließung dieser Lücke nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll sein können.
Die zweite wichtige Erkenntnis der Studie betrifft die aktuelle Definition von Armut, die auf einer ausreichenden Kalorienzufuhr basiert und sich erheblich von unserem heutigen Verständnis unterscheidet. Wenn wir Armut daran messen, ob Menschen sich eine gesunde Ernährung leisten können oder nicht, sind weltweit etwa fünfmal mehr Menschen von Armut betroffen. Es fehlt sogar das 20-fache an finanziellen Ressourcen, um diese Menschen aus der Armut zu hieven. Obwohl die aktuellen Armutsmessungen bei ihrer Entwicklung in den 90er-Jahren angemessen waren, müssen sie sich weiterentwickeln und an ein zeitgemäßes Verständnis von Armut angepasst werden.
Die Daten legen nahe, dass es nicht ausreicht, mehr Lebensmittel zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Es bedarf vielmehr einer globalen Anstrengung, um mehr Menschen eine gesunde Ernährung zu ermöglichen. Was passiert, wenn dies nicht geschieht?
Etwa 3 Milliarden Menschen weltweit können sich keine gesunde Ernährung leisten. Hinzu kommen diejenigen, die keinen physischen Zugang zu gesunden Lebensmitteln haben, da sie vor Ort nicht verfügbar sind. Oftmals fehlt es den Menschen sowohl an physischem als auch finanziellen Zugang zu gesunden Lebensmitteln, und die Auswirkungen sind offensichtlich. Etwa 648 Millionen Menschen weltweit leiden an Hunger, und über 2 Milliarden haben einen Mangel an Mikronährstoffen. Diese Mangelerscheinungen beeinträchtigen Menschen in vielerlei Hinsicht.
Derzeit beobachten wir Trends, die darauf hinweisen, dass diese Probleme zunehmen könnten, darunter Ernteausfälle aufgrund extremer Wetterereignisse infolge des Klimawandels und das rasante Bevölkerungswachstum in Afrika. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass sich das Vermögen der Reichsten in den vergangenen Jahren vervielfacht hat. Gerade um diesen Trend entgegenzuwirken sind globale Anstrengungen besonders wichtig. Andere Studien deuten sogar darauf hin, dass die Kosten von Mangelernährung um ein Vielfaches höher sein könnten als die von uns berechnete Lücke. Ohne eine koordinierte globale Anstrengung werden insbesondere die Länder gezwungen sein, diese Kosten zu tragen, die bereits mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert sind. Es ist jedoch ermutigend zu erkennen, dass die finanziellen Ressourcen im Grundsatz vorhanden sind und dass Investitionen in gesunde Ernährung lohnenswert sind.
Eine Pressemitteilung von Misereor zu der Studie, weitere Informationen sowie Links zur Pressemappe mit Hintergrundinformationen und dem wissenschaftlichen Arbeitspapier der Universität Göttingen ist hier zu finden: www.misereor.de/presse/pressemeldungen-misereor/neue-studie-zur-armutsluecke-gesunder-ernaehrung