„Die Ukraine ist schon lange keine ehemalige Sowjetrepublik mehr. Wir fühlen uns auch nicht als Osteuropäer“, sagt die Soziologin Dr. Halyna Leontiy. Wenn sie über ihr Heimatland spricht, berichtet sie von moderner Infrastruktur, einem offenen Lebensstil und Hunderttausenden, die auf dem Maidan in Kiew drei Mal für Demokratie und EU-Orientierung protestierten. „Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 ist viel passiert. Mit jeder Revolution sind junge Generationen dazugekommen. Wichtig für den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung waren zum Beispiel die Arbeit der NGOs oder die Open Universities.“
Warum sie all dies betont? Weil sie in Deutschland immer wieder erfahren muss, wie wenig die Menschen über die Ukraine, ihre Geschichte und das Verhältnis zu Russland wissen. Leontiy selbst kam 1992 mit einem DAAD-Stipendium nach Deutschland. An der Universität Konstanz studierte sie Germanistik, Soziologie und Rechtswissenschaften und wurde dort im Jahr 2007 promoviert. Nach Stationen in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland vertritt sie seit Oktober 2021 die Professur „Grundlagen der Sozialwissenschaften“ am Institut für Soziologie der Universität Göttingen.
Aktuell hat sie damit begonnen, die Diskurse über die Ukraine in Deutschland zu analysieren. Damit möchte sie eine Lücke schließen, denn sozialwissenschaftliche Studien zur Ukraine gebe es in der Osteuropaforschung bislang kaum. „In der Literatur der vergangenen 30 Jahre wird das Wissen über das Nichtwissen über die Ukraine immer wiederholt. Das ist ein Scheitern der Wissenschaft“, sagt sie. Als Beispiel für verfestigte Narrative nennt sie ein Konstrukt aus dem 16. Jahrhundert über die verwandten slawischen Völker, mit Russland als großem Bruder von Ukraine und Belarus. Dieses hierarchische Bild werde in Russland seit Jahrzehnten kommuniziert und auch im aktuellen Krieg benutzt: Russland müsse das kleine Bruderland befreien.
Die russische Bedrohung wurde in Wissenschaft, Politik, Medien und Gesellschaft lange nicht erkannt oder unterschätzt, sagt Leontiy: „Die Annexion der Krim 2014 und das Konstrukt der pro-russischen Separatisten wurden im Westen als Auseinandersetzung unter Gleichen wahrgenommen. Es bedurfte erst der vollen Invasion 2022, dass man in Deutschland und anderswo die Ukraine als eigenständiges Subjekt wahrnimmt.“ Allerdings nicht überall: In Talkshows und manchen offenen Briefen würden „Menschen mit null Ahnung“ Tatsachen verdrehen und aus einer paternalistischen Haltung heraus Forderungen an die Kriegsopfer stellen.
Informationen über die Ukraine und die Möglichkeit, Aspekte der Diskurse über die Ukraine in Deutschland zu analysieren, erhielten Bachelorstudierende in einem Lehr-Forschungsprojekt, das Leontiy im Wintersemester 2022/2023 angeboten hat. Welche Akteure gibt es in den Diskursen, was sind die Argumente? Gibt es einen Wandel in den Debatten? Insgesamt 15 Studierende gingen diesen Fragen in fünf Gruppen nach. Sie analysierten Artikel in „Die Zeit“ zu unterschiedlichen Zeitpunkten, die Berichterstattung in FAZ und „Welt“ direkt bei Kriegsausbruch, die Statements der AfD sowie linke Diskurse im außerparteilichen Engagement und die Statements von Unternehmen im Gesundheitswesen, in der Automobilindustrie und in der Konsumbranche zum Handelsboykott mit Russland.
„Die Studierenden haben nicht nur vieles über die Ukraine gelernt, sondern auch, wie man mit Medien und den verschiedenen Positionen kritisch umgeht“, sagt Leontiy. „Das methodisch-kontrollierte Vorgehen einer wissenschaftlichen Analyse ist später überall im Beruf anwendbar.“ In diesem Sommersemester bietet sie ein weiteres Lehrprojekt mit empirischen Arbeiten zu den Diskursen an. Mit ihrer zukünftigen Ukraine-Forschung möchte sie die sozialwissenschaftliche Perspektive stärken.