„Alle Schüler*innen sollten jederzeit (…) eine digitale Lernumgebung und einen Zugang zum Internet nutzen können.“
Dieses Ziel wollte die Kultusministerkonferenz in diesem Jahr erreicht haben. Ist das gelungen? Die Göttinger Studie „Digitalisierung im Schulsystem 2021“ kommt zu dem Schluss: Nein. Die Mehrheit der weiterführenden Schulen in Deutschland habe immer noch Nachholbedarf – trotz eines Digitalisierungsschubs durch die Corona-Pandemie.
Beim Vergleich von digitalen Strategien und Infrastrukturen an den Schulen konstatieren die Forscher eine deutliche Kluft zwischen digitalen Vorreitern, digital orientierten Schulen, Durchschnitt- und Nachzügler-Schulen. Auch die Möglichkeiten, Kompetenzen für das digitale Unterrichten auf- und auszubauen, sind ungleich verteilt. Dr. Frank Mußmann von der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Universität Göttingen hat die Studie geleitet und beantwortet hier drei Fragen.
Herr Mußmann, die Schüler*innen sollen auf eine Gesellschaft im digitalen Wandel vorbereitet werden. Was bedeutet die in der Studie beschriebene digitale Kluft für die Schüler*innen und auch die Lehrkräfte?
Die digitale Kluft an Deutschlands Schulen gefährdet die gleichberechtigte Teilhabe an unserer Gesellschaft: In vielen Schulen erwerben Schülerinnen und Schüler nicht die digitalen Kompetenzen, die für eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe zukünftig notwendig sind. Zum Beispiel wird nur an 34 Prozent der Nachzügler-Schulen das Lernziel verfolgt, im Unterricht prüfen zu lernen, ob Informationen im Internet zuverlässig und richtig sind. In Schulen ohne Medienbildungskonzepte ist auch fraglich, wie die Medienkompetenzen erworben werden sollen, die für die berufliche Integration in einer Gesellschaft mitten in der digitalen Transformation ja erforderlich sind.
Gleichzeitig erleben auch Lehrkräfte an Nachzügler-Schulen eine Benachteiligung in der Ausübung ihres Berufes, weil sie mit viel mehr Herausforderungen, Hindernissen und am Ende auch Belastungen konfrontiert sind als in Schulen mit explizit digitaler Orientierung. An Vorreiter-Schulen haben Lehrkräfte wiederum deutliche bessere Arbeitsbedingungen und Entwicklungschancen.
Eine funktionierende digitale Infrastruktur ist wichtig, aber längst nicht alles. Sie haben die Lehrkräfte auch um eine Selbsteinschätzung ihrer Kompetenzen für einen Unterricht in digitaler Lernumgebung gebeten. Wie gut fühlen sich die befragten Lehrkräfte gerüstet?
Angesichts gestiegener Anforderungen an das digitale Lehren und Lernen stehen Lehrkräfte vor der Herausforderung, ihre digitalen Kompetenzen weiterzuentwickeln. 32 Prozent geben bei einer Selbsteinschätzung sogar an, dass sie beim Einsatz digitaler Medien und Techniken schnell an ihre Grenzen geraten. Unsre Analyse zeigt vier Kompetenz-Typen. Darunter befinden sich zirka 50 Prozent der Lehrkräfte mit sehr hoher oder eher hoher Kompetenz, die sich wahrscheinlich (sehr) gut gerüstet fühlen. Die unzweifelhaft vorhandenen Kompetenz-Unterschiede lassen sich jedoch nicht kurzfristig überwinden. Die Entwicklung von unterrichtsbezogenen digitalen Kompetenzen ist ein längerfristiger Entwicklungsprozess, bei dem große Unterschiede zwischen den Lehrkräften angeglichen werden müssen.
Die Vergangenheit war von einer Aneignung digitaler Lehr-Kompetenzen vor allem im Selbststudium, durch eine hohe Selbstverantwortung und von guten Erfahrungen im kollegialen Austausch geprägt. Gleichzeitig muss man über alles wohl von einer unzureichenden institutionellen Unterstützung bei der Kompetenzentwicklung ausgehen. Zukünftig muss also viel mehr in die Fort- und Weiterbildung investiert werden. Beachtet werden sollte hier ein wechselseitiger Bedingungszusammenhang: Eine angemessene Kompetenzentwicklung ergibt sich empirisch gesehen vor allem dann, wenn auch praxistaugliche Medien und Techniken sowie digitale Schulstrategien zur Verfügung stehen. Bei entwicklungsförderlichen Rahmenbedingungen an einer Schule gibt es mehr praktische Einsatzmöglichkeiten und größere Lernherausforderungen, der Lehrkräfte-Anteil mit ausgeprägten digitalen Kompetenzen ist höher. Umgekehrt haben Lehrkräfte bei wenig förderlichen Rahmenbedingungen auch weniger praktische Einsatzmöglichkeiten, weniger Erfahrungsaustausch und der Anteil unter ihnen mit geringeren digitalen Kompetenzen ist höher.
Was sollte also in Zukunft geschehen, um die Digitalisierung in den Schulen voranzubringen?
Die Corona-Pandemie und die forcierte Digitalisierung haben den Lehrkräften neue Anforderungen gestellt, sie beruflich herausgefordert und ihre Arbeitssituation temporär deutlich verändert. Gleichzeitig wissen wir – auch durch eigene Studien –, dass der Beruf von Lehrkräften schon zuvor durch eine hohe Arbeitsintensität und lange Arbeitszeiten gekennzeichnet war. In der Vergangenheit wiederholt vorgelegten Befunde haben sich auch in unserer aktuellen Studie erneut bestätigt.
Insofern ist völlig offen, wieviel Energie (Motivation, Zeit, Ressourcen) nach der Krisenphase für die Gestaltung des digitalen Lehrens und Lernens tatsächlich zur Verfügung stehen wird. Es ist auf jeden Fall auch eine (zeitliche) Ressourcenfrage. Bei der Digitalisierung der Schulen kommen die Investitionen in Technik und Infrastruktur durch den „DigitalPakt Schule“ jetzt hoffentlich endlich ins Rollen. Aber mit der Technik allein ist es nicht getan. In den Schulen geht es jetzt um die Entwicklung von digitalen Schulstrategien, passenden Medienbildungskonzepten und um eine redliche Investition in Köpfe.
Die überwiegende Mehrheit der Lehrkräfte ist motiviert, passende moderne Lehr- und Lernformen mit digitalen Medien und Techniken zu entwickeln und umzusetzen. Sie benötigen dazu jedoch
- entsprechende Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten und
- eine schulinterne Auseinandersetzung mit dem digitalen Lehren und Lernen sowie durch die Schulleitungen unterstützte und beteiligungsorientierte Schulentwicklungsprozesse.
Andernfalls überfordert die Digitalisierung Lehrkräfte damit, selbstgesteuert und eigeninitiativ effektive und pädagogisch integrierte Formen der Nutzung digitaler Medien und Techniken für das Unterrichten – zusätzlich zu allen anderen Aufgaben – zu realisieren.