Kaufrufe in Göttingens Straßen

„Holla! Walnötte, Walnötte!“ schallt es durch die Straßen Göttingens. Mit sogenannten Kaufrufen machen wandernde Straßenhändler*innen im 18. Jahrhundert auf sich und ihre Waren aufmerksam. Neben Walnüssen bieten sie zum Beispiel Zwiebeln, Dörrobst, Butter und Eier, Seife und andere Waren des täglichen Bedarfs an, schleifen Scheren und Messer oder sammeln Lumpen für die Papierherstellung. Auch Luxusartikel wie Zitronen oder Teetassen und Milchkännchen bieten sie in Göttingen feil. Denn mit dem Zuzug von Gelehrten der neu gegründeten Universität in die bislang bäuerlich geprägte Stadt entstand ein Absatzmarkt für neuartige Waren aus nah und fern.

Die Straßenhändler*innen mit ihrer jeweiligen Ware porträtierte der Zeichner und Kupferstecher Georg Daniel Heumann. Im Jahr 1744 schuf er die Serie „Göttingischer Ausruff“ mit 30 Kupferstichen, deren Drucke unter den Bürgern der Stadt zu begehrten Sammelobjekten wurden. Heumann war von 1741 an zehn Jahre lang der erste und einzige Hof- und Universitätskupferstecher der Universität Göttingen.

Als Hauptaufgabe illustriert er die Werke der Göttinger Professoren, zum Beispiel das Pflanzenlexikon von Albrecht von Haller. Im Nebenerwerb porträtierte er regierende Fürsten und Göttinger Professoren und schuf Bilder der Stadt mit seinen Universitätsgebäuden. Heumanns Ausruff-Serie bezeichnet der Göttinger Volkskundler Prof. Dr. Rolf Wilhelm Brednich als sozialhistorisches Dokument, als „Quelle für die Göttinger Alltagskultur des 18. Jahrhunderts“.

Die farbigen Stiche stammen aus „Dei in GÖTTINGEN herüm schriende Lühe‚ oder der Göttingische Ausruff. Zu finden bey Georg Daniel Heumann in Nürnberg“ (vermutlich 1755), Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, Slg. Lipperheide, Sign. Dfi 1. Die letzte Tafel (Lumpensammler) stammt aus „Dei in GÖTTINGEN herüm schriende Lühe, oder der Göttingische Ausruff. Zu finden bey Georg Daniel Heumann in Göttingen 1744“, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign. 8° Bibl. Uffenbach 808 Rara.

Der Emeritus präsentiert in seinem Buch nicht nur die 30 Drucke aus der Serie, sondern gewährt in seinem ausführlichen Kommentar auch Einblick in den Göttinger Handel zur Zeit der Universitätsgründung. Er berichtet unter anderem über Regelungen des Straßenhandels und die liberale Marktpolitik, mit der die örtlichen Kaufleute nicht immer einverstanden waren.

In seiner Bewertung der Kupferstiche der Ausruff-Serie als historische Quelle hebt Brednich die Beobachtungsgabe Heumanns hervor. Dieser habe die Ausrufer-Figuren detailgenau dargestellt und wichtige Neuerungen im städtischen Straßenbild in seinen Bildern aufgenommen: gepflasterte Straßen mit Gehwegen, Straßenlaternen, Alleebäume und die Trinkwasserpumpbrunnen. Nur die Häuserzeilen in den Bildhintergründen bezeichnet Brednich als inszenierte städtische Kulisse.

Rolf Wilhelm Brednich: Der Göttingische Ausruff von 1744, Universitätsverlag Göttingen 2021, 164 Seiten, ISBN 978-3-86395-505-2, 20 Euro (Print) und als Online-Version (open access), https://doi.org/10.17875/gup2021-1611

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