Prof. Dr. Arnulf Quadt, Physikprofessor an der Universität Göttingen, ist gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Stan Lai seit sieben Jahren an verschiedenen Projekten des Kernforschungszentrums CERN in Genf beteiligt. Das ATLAS-Experiment ist mit knapp 50 Metern Länge und 25 Metern Höhe das größte der vier Experimente mit dem Teilchenbeschleuniger Large-Hadron-Collider.
Herr Quadt, Sie haben gerade die Leitung der Institutsversammlung des ITk-Projektes, eines Teilprojektes von ATLAS, übernommen. Was passiert dort?
Im weltweit höchstenergetischsten Teilchenbeschleuniger werden Wasserstoffkerne, also Protonen, zur Kollisionen gebracht. Die Endzustandsteilchen erlauben uns Rückschlüsse auf die dabei stattfindenden Prozesse und somit auf die Elementarteilchen, also den Grundbaukasten der Natur, sowie die Wechselwirkungen zwischen Ihnen. ITk steht dabei für Inner Tracking Detector, das ist der innere Spurendetektor beim ATLAS-Experiment. Zwischen 2025 bis 2027 soll der Umbau bzw. Einbau des neuen Detektors stattfinden. Der Anfang nächsten Jahres startende „Run-3“ wird bis 2025 andauern. Voraussichtlich ab Ende 2027 beginnt dann der „Run-4“ mit deutlich höherer Strahlintensität. Jedes der 40 Millionen Aufeinandertreffen von Protonen-Paketen pro Sekunde führt dann zu jeweils bis zu 200 Kollisionen. Deren Endzustandsteilchen werden aufgezeichnet und müssen anschließend getrennt und individuell ausgewertet werden. Wir können dadurch das Standardmodell der Teilchenphysik untersuchen, die Physik der starken und der schwachen Wechselwirkung sowie Top-Quarks und Bottom-Quarks überdenken und auf die Suche nach „neuer Physik“ wie der Supersymmetrie gehen.
Wie muss so ein Detektor aufgebaut sein?
Die Anforderungen an den Spurdetektor, den wir schon seit einigen Jahren unter anderem am II. Physikalischen Institut unserer Uni selbst entwickeln, steigen enorm an. Die eingesetzten Materialien müssen deutlich strahlenhärter sein, die Auslese-/Mikroelektronik muss schneller und leistungsstärker werden, und die Größe der Pixel muss deutlich sinken, ihre Anzahl somit deutlich steigen. Das ist wichtig, denn wenn viel mehr Teilchen in den Detektor fliegen, brauchen wir deutlich mehr und deutlich kleinere Pixel, um jeden Treffer immer noch einzelnen Kollisionen zuteilen zu können. Wenn die Pixel zu groß sind, können mehrere Teilchen aus unterschiedlichen Kollisionen gleichzeitig in die gleiche Pixelzelle fliegen. Wir können dann die zwei Treffer nicht mehr separat messen und wissen nicht, dass es zwei Teilchen waren.
Der Detektor besteht aus mehreren zylindrischen Lagen, die wie eine Matroschka-Puppe ineinander verbaut sind. Der gesamte Spurdetektor besteht aus 5,1 Milliarden Elektronik-Auslesekanälen, 55-Mal mehr als der aktuelle Spurdetektor, die jeweils 40 Millionen Mal pro Sekunde ausgelesen werden. Die mechanischen Trägerstrukturen bestehen aus ultradünnen Carbon-Materialien. Der Detektor muss beim Betrieb auf minus 25 Grad Celsius abgekühlt werden, weil die Elektronik Wärme abstrahlt und sonst Strahlenschäden im Sensormaterial auftreten würden.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit, wenn so viele Wissenschaftler*innen weltweit kooperieren?
Das ITk-Projekt befindet sich im Übergang von der Entwicklungs- in die Produktions-Phase. Die einzelnen Bauteile werden an den beteiligten Instituten weltweit gebaut, an anderen in größere Strukturen eingesetzt und schließlich am CERN zum endgültigen Detektor zusammengebaut. Zum Einsatz wird er dann 100 Meter unter der Erdoberfläche in den großen ATLAS-Detektor integriert. Am ITk-Projekt sind 630 Wissenschaftler*innen aus 117 Instituten beteiligt, dort arbeitet ein Team aus 23 Ländern zusammen. Die Institutsversammlung ist quasi das Parlament dieser Kollaboration. Für das Projekt waren die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie aufgrund der Abhängigkeiten von vielen Partnern besonders hart. Auf der anderen Seite bedeutet für uns Kollaboration, dass die deutschen Gruppen die Schichten aller internationalen Projektpartner, die nicht reisen konnten, im Teststrahlbetrieb am DESY in Hamburg übernommen haben. So konnten wir ohne Zeitverzögerung weiterarbeiten.
Weitere Informationen zur Arbeit am CERN und zur erstmals beobachteten Wechselwirkung zwischen Top-Quarks und Higgs-Boson finden Sie in unserer Pressemitteilung unter https://www.uni-goettingen.de/de/54088.html?id=5046