Mateo aus Mailand produziert Plastikverpackungen für Obst und Gemüse. Anna aus Berlin findet es praktisch, dass sie ganzjährig verpackte Tomaten kaufen kann. Doch dann erfährt sie, dass der Verpackungsmüll im Meer als Mikroplastik im Fisch wieder auf ihrem Teller landet. Dagegen möchte sie etwas tun und lernt die Europäische Union kennen.
Mit einer solchen Story steigen Politikwissenschaftler*innen der Universität Göttingen in ein Planspiel für Schulklassen im berufsschulischen Übergangssystem ein. Es ist Teil eines zweitägigen Workshops, den das Team im Rahmen des Projekts „Junge Menschen erreichbar machen mit politischer Europabildung (JUMPER)“ entwickelt und an Schulen erprobt hat. Ziel des Projekts ist es, bislang von politischer Bildung wenig erreichte Zielgruppen an die EU heranzuführen und ihre politischen Kenntnisse, Kompetenzen und Motivationen wie Selbstvertrauen zu fördern.
Anknüpfend an die Lebenswelt der heterogenen Gruppe von Schüler*innen wird mit vielen Bildern und wenig Text in das komplexe Thema EU eingeführt – mit einem Geo-Puzzle und Quizzen, interaktiven Schaubildern und Bewegungsspielen. Am zweiten Tag schlüpfen die Schüler*innen in die Rollen von Politiker*innen unterschiedlicher Fraktionen und Nationen im Europäischen Parlament, um einen Kompromiss für ein Gesetz gegen Plastikmüll zu finden, und können mit einer*m realen Abgeordneten über ihre eigenen Fragen sprechen. Prof. Dr. Monika Oberle und Märthe-Maria Stamer berichten hier von ihren Erfahrungen und ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus ihrem Projekt.
Wie ist es Ihnen gelungen, die Schüler*innen, die sich in der Mehrzahl auf ihren ersten allgemeinbildenden Schulabschluss vorbereiten, an ein solch komplexes Thema heranzuführen?
Bei der Entwicklung des Workshops haben wir die Zielgruppen aktiv einbezogen. Wir haben verschiedene Methoden und auch thematische Schwerpunkte ausprobiert, Feedback der Jugendlichen eingeholt und darauf reagiert. So ist es gelungen, einen Bezug der Europäischen Union zu Alltag und Lebensrealität der jungen Menschen herzustellen. Wir sind den Schüler*innen auf Augenhöhe begegnet und haben im Workshop viel Platz für ihre Fragen und Interessen eingeräumt. Mit der Themenwahl „Plastikmüll“ wurde an vorhandenes Wissen der Schüler*innen angeknüpft – viele haben europäische Regelungen in diesem Bereich bereits selbst erlebt: So werden Caprisonne und Kakao seit kurzem mit Pappstrohhalm verkauft.
Sie haben das Projekt mit teilnehmender Beobachtung sowie der Auswertung von Fragebögen und Interviews evaluiert. Was sagen denn die Schüler*innen über den Workshop? Was ist besonders gut bei ihnen angekommen und ist auch etwas durchgefallen?
Durch den Event-Charakter des Workshops – wir führen ihn ja als außerschulische politische Bildner*innen im schulischen Kontext durch – waren die Schüler*innen zumeist erfreut über das Angebot. Besonders gut gefiel ihnen das Planspiel, bei dem sie selbst aktiv werden konnten und erlebt haben, wie schwierig die Kompromissfindung ist, wenn unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden müssen. Auch das Gespräch mit den Mitgliedern des Europäischen Parlaments wurde sehr positiv bewertet. In den anschließenden Interviews äußerte sich ein Teilnehmer überrascht, „dass wir also heute mit einem Politiker gesprochen haben. Also ich hätte das nie gedacht, dass wir mal mit einem Politiker sprechen. Und das hat mich auf jeden Fall gefreut.“ Auch die Quizze und spielerischen Ansätze fanden positive Resonanz.
Die bewusst im Workshop-Konzept eingebauten Wiederholungen neuer Informationen kamen bei einigen gut an, weil sie dadurch trotz des komplexen Themas gut mitkamen, andere fanden diese Elemente jedoch eher langweilig. Hier zeigen sich die großen Herausforderungen der besonders heterogenen Zielgruppe des berufsschulischen Übergangssystems, die Binnendifferenzierungen erforderlich macht. Auf Grundlage der Rückmeldungen wurde der Workshop stetig weiterentwickelt, und das Konzept kann nun flexibel für verschiedene Lerngruppen angepasst werden.
„Das schaffen die nicht“, sagen manche Lehrkräfte und warnen so vor einer Überforderung ihrer Schüler*innen durch komplexe Themen. Wie ist Ihre Einschätzung?
Eine zentrale Erkenntnis unseres Projekts ist, dass die Schüler*innen unterschätzt werden: Sie können sehr wohl auch komplexe Themen wie die EU erfassen und bearbeiten. Auch wenn ihnen anfangs die Verbindung zwischen ihrer Lebenswelt und der EU, und damit die Relevanz der EU für ihren eigenen Alltag, nicht bewusst ist, erkennen die Jugendlichen im Laufe des Workshops, welchen Einfluss die EU auf ihr Leben hat und wie sie hier auch selbst Einfluss nehmen können. Durch die Erarbeitung der Grundlagen des Aufbaus und der Funktionsweise der EU am ersten Workshop-Tag und der praktischen Umsetzung der Simulation des Europäischen Parlaments am zweiten Tag bekommen die Schüler*innen einen Einblick in die komplexen Verhandlungs- und Entscheidungsfindungsprozesse der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene.
Wie bereits im Jean Monnet Projekt PEP zur EU-Bildung in der Grundschule zeigt sich, dass Schüler*innen in Sachen politischer Bildung und EU mehr zugetraut werden sollte. Wenn wir es ernst meinen mit politischer Teilhabe aller, dann müssen auch bislang wenig erreichte, zum Beispiel bildungsfernere Jugendliche zum politischen Urteilen und Handeln befähigt werden. Es ist notwendig und möglich, bei Europabildung nicht nur auf soziales Lernen und Sprachenlernen zu setzen, sondern in Auseinandersetzung mit der EU auch politisches Lernen im engeren Sinne zu fördern. Dafür braucht es für die schulische Praxis allerdings auch eine entsprechende Lehrerbildung, die Lehrkräfte für die politische EU-Bildung fachlich und fachdidaktisch qualifiziert, gerade auch an berufsbildenden Schulen. Die Lehrerfortbildungen im JUMPER-Projekt haben gezeigt, dass hieran durchaus Interesse besteht.
Mehr Informationen zum Projekt sowie Materialien für die einzelnen Workshop-Elemente sind in Kürze hier zu finden: http://jumper.uni-goettingen.de/