Forschung zu den Ursprüngen des Islam stößt im deutschsprachigen Raum häufig auf mehrere Hindernisse: Sprachbarrieren, disziplinäre Grenzen und unterschiedliche Referenzrahmen. Obwohl Wissenschaftler*innen im anglo-amerikanischen Raum den frühen Islam schon seit einiger Zeit verstärkt auch im Kontext der Spätantike betrachten, steckt die Subdisziplin „Late Antique and Early Islamic Studies“ (LAESSI) hierzulande noch in den Kinderschuhen. Prof. Dr. Jens Scheiner vom Institut für Arabistik/Islamwissenschaften möchte das ändern: Als erster Wissenschaftler der Universität Göttingen war er im Programm „Momentum – Förderung für Erstberufene“ der VolkswagenStiftung erfolgreich.
Herr Scheiner, warum ist es so schwierig, den Übergang von der Spätantike zum frühen Islam, also der Zeit zwischen dem vierten und neunten Jahrhundert, zu erforschen?
Um diese gut fünf Jahrhunderte im Mittelmeerraum und im Nahen Osten historisch angemessen zu untersuchen, bedarf es einer Sprachkompetenz, die ihres Gleichen sucht. Neben Griechisch, Syrisch-Aramäisch und Arabisch müssten Wissenschaftler*innen auch Hebräisch, Mittelpersisch und Babylonisches Aramäisch beherrschen. Was vereinzelten Orientalisten im 19. Jahrhundert noch möglich war, kann in der heutigen differenzierten Wissenschaft nur eine Forschungsgruppe erfüllen, deren Mitglieder diese Sprachkompetenzen mitbringen.
Zudem wurden durch die Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaft in den vergangenen 100 Jahren nicht nur unterschiedliche Schwerpunkte im Spracherwerb und in den zu untersuchenden Quellengattungen gelegt, sondern je nach Fach auch differierende methodische Ansätze entwickelt. Man denke hier etwa an die Gewährsleute- oder Isnad-Analyse in der Islamwissenschaft. Solche Ansätze sind zwar fachlich gut anwendbar, doch erschweren die Fachgrenzen ein „Wandern“ der Methode in Nachbarfächer. So begegnen wir ähnlichen Gewährsleute-Ketten im Talmud oder in den Apophthegmata Patrum, einer Sammlung von kurzen Redewendungen christlicher Mönche aus dem vierten und fünften Jahrhundert, die ähnlich zu untersuchen wären. Auch hier kann nur eine erfahrene Forschungsgruppe Abhilfe schaffen, um den Transfer und die Weiterentwicklung solcher Methoden zu gewährleisten.
In anderen Ländern hat man die Notwendigkeit, hier umzudenken, aber offenbar erkannt. Wie erklären Sie sich das?
Beeinflusst durch die scharfe Kritik an einer zu religionsnahen Geschichtsschreibung zur frühislamischen Zeit hat sich in frühen 1990er Jahren in den USA und Großbritannien eine Forschungsrichtung etabliert, welche Mohammed und die ersten Kalifen als Teil eines spätantiken Erbes interpretiert. Am Augenfälligsten wird dieser Ansatz an den frühislamischen Bauten, etwa dem Felsendom in Jerusalem oder der Umayyaden-Moschee in Damaskus, in welchen nicht nur die byzantinische (das heißt die antike römische) Architektur aufgenommen, sondern auch auf das spätantike persisch-sassanidische Erbe zurückgegriffen wird. Auch die Integration der christlich-orientalischen Kirchen in die muslimische Herrschaft, lässt sich sehr gut erklären, wenn man sich die spätantiken Religionspolitiken des Byzantinischen Reiches oder des Sassanidenreiches und deren Umgang mit religiös Andersglaubenden ansieht.
Folglich haben die Arbeiten einzelner ausgewiesener Kolleg*innen aus dem anglo-amerikanischen Raum gezeigt, wie fruchtbar diese neue historische Epocheneinteilung gemacht werden kann. Man denke hier zum Beispiel an die Forschung der Byzantinistin Prof. Dr. Averil Cameron oder des Islamwissenschaftlers Prof. Dr. Lawrence I. Conrad. Während sich dieser neue Forschungsansatz in den USA und Großbritannien mittlerweile in Professuren und Master-Studiengängen niederschlägt, hinkt die deutschsprachige Frühislam-Forschung der Entwicklung hinterher. Eine rühmliche Ausnahme bildet das Corpus Coranicum in Berlin, geleitet von Prof. Dr. Angelika Neuwirth, das sich der Untersuchung des Korans sowie seiner Umwelttexte widmet.
Die VolkswagenStiftung fördert Ihr Vorhaben, eine neue wissenschaftliche Teildisziplin aufzubauen, sieben Jahre lang mit insgesamt rund 950.000 Euro. Was genau soll in dieser ungewöhnlich langen Förderphase passieren?
Ziel der Förderung ist der Aufbau einer Forschungsgruppe, die sowohl die oben skizzierten fachlichen Hürden überwindet als auch durch die Untersuchung neuer Aspekte der spätantik-frühislamischen Zeit neues Grundlagenwissen generiert. Zu den thematischen Schwerpunkten gehören: monarchisch-imperiale Legimitationsstrategien, unterschiedliche Haltungen zu religiös-motivierter Kriegsführung, etwa dem frühislamischen Jihad, oder der Umgang mit bildlichen Darstellungen in den verschiedenen Strömungen des Judentums, Christentums und frühen Islams.
Darüber hinaus erstellen wir während der Förderphase Lehrmaterialien, die wir auch gleich im forschungsnahen Hochschulunterricht anwenden. Diese Lehrmaterialien stellen die LAESSI-Epoche ins Zentrum und erlauben es Kolleg*innen, in ihren universitären (und schulischen) Lehrveranstaltungen auf Quellen und Übersetzungen aus einer Zeit zurückzugreifen, die wegen der „fremden“ Sprache oder wegen vorhandener Disziplingrenzen unberücksichtigt geblieben wären.
Zu guter Letzt, und dies ist ein Hauptanliegen der VolkswagenStiftung, soll durch die Etablierung dieser neuen Teildisziplin in Göttingen und perspektivisch auch an anderen Universitäten in Deutschland die deutschsprachige Hochschullandschaft modernisiert werden. Es ist zu vermuten, dass es so gelingt, den fachlichen Vorsprung im anglo-amerikanischen Raum aufzuholen und die Universität Göttingen durch neue Forschungsergebnisse als zentralen Ort der deutschen LAESSI-Forschung international zu etablieren.