Spätestens seit den Suiziden bekannter Hochleistungssportler sind Depressionen im Sport kein Tabuthema mehr. Für seine Dissertation zum Thema Depression im Spitzensport hat der Sportsoziologe Dr. Felix Kühnle von der Universität Göttingen den alle zwei Jahre verliehenen Wissenschaftspreis 2019/20 des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) erhalten.
In Ihrem 2019 veröffentlichen Buch „Depression im Spitzensport: Psychisches Leiden als Kommunikationsthema“ beschäftigen Sie sich mit der zentralen Fragestellung, wie über Depressionen von Spitzenathlet*innen gesellschaftlich kommuniziert wird. Warum ist es wichtig, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen?
Athlet*innen, die die Diagnose einer Depression erhalten oder bei sich selbst eine Depression vermuten, können nicht einfach in sich gehen, um in Erfahrung zu bringen, was diese Diagnose für sie bedeutet bzw. bedeuten würde. Sie müssen sich vielmehr an dem orientieren, was über Depressionen gesagt oder geschrieben wird. In dem Maße, wie ein Betroffener sich mit dem Krankheitsbild beschäftigt und dabei Ratgeberliteratur, Zeitungsartikel, Apps, Internetforen oder auch Autobiografien konsultiert, wird er auch das Verständnis seiner Lebenssituation zunehmend daran ausrichten. Auch die Art und Weise, wie die soziale Umwelt Betroffenen begegnet, hängt ganz wesentlich mit dem Bild zusammen, das sich die Gesellschaft von Depressionen macht. Meiner Arbeit liegt folglich die Annahme zugrunde, dass das soziale Schicksal depressiver Athlet*innen nicht allein aus ihrem leidvollen Erleben und typischen Symptomverläufen resultiert, sondern vor allem auch vom gesellschaftlichen Reden über Depressionen im Spitzensport abhängt. Denn soziologisch ist klar: Die Eigenmacht, die Depressionen oft zugeschrieben wird, wird nicht zuletzt kommunikativ vermittelt.
Wie hat sich Wissenschaft dem Thema bislang gewidmet? Sind Spitzensportler besonders gefährdet, Depressionen zu entwickeln?
Der Forschungsdiskurs wird bislang vor allem von Psycholog*innen und Psychiater*innen geführt. Der Großteil der verfügbaren Studien untersucht demgemäß die Häufigkeit depressiver Erkrankungen in verschiedenen Sportarten und identifiziert Risikofaktoren, vulnerable Phasen und kritische Ereignisse, die depressive Symptomlagen von Athlet*innen auslösen können. Die meisten Arbeiten legen nahe, dass Depressionen im Sport genauso verbreitet seien wie in der Normalbevölkerung. Zudem gibt es eine Reihe von Artikeln über die Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Interventionen in diesem leistungs- und körperorientierten Sozialbereich. Inwiefern der Spitzensport für Betroffene als Ressource fungieren kann, als eine Art Sinnquelle bei der Bewältigung des Leidens, wird nicht gleichermaßen in Betracht gezogen. Erst recht fehlen soziologische Arbeiten, die die gesellschaftliche Kommunikation beobachten und die soziale Konstruktion des Themas offenlegen. Das Potenzial solcher Analysen, etablierte Deutungen zu irritieren und somit ganz neue Sichtweisen auf das Phänomen zu entwickeln, wird noch kaum ausgeschöpft.
2009 beging Robert Enke, Kapitän der Mannschaft von Hannover 96, Suizid. Wie hat sein Tod das öffentliche Reden über Depressionen im Profisport verändert?
Depressionen im Spitzensport sind heute weit davon entfernt, ein gesellschaftliches Tabuthema zu sein. Nachdem bereits über die Fälle Deisler und Hannawald mehrfach berichtet wurde, hat das Thema vor allem in Reaktion auf den Suizid Robert Enkes im November 2009 regelrecht Konjunktur in den Massenmedien. Nicht nur Athlet*innen aus verschiedenen Sportarten, sondern auch Trainer, Schiedsrichter, Sportmanager oder sogar Stadionsprecher äußerten sich öffentlichkeitswirksam über ihre psychischen Schieflagen und emotionalen Schwierigkeiten. Überblickt man die verschiedenen Darstellungen des Phänomens in Printmedien, Online-Journalen, TV-Dokumentationen und Talkshow-Formaten entsteht der Eindruck, dass Depressionen, Burnout-Syndrome und ähnliche Problemlagen im Sport weit verbreitet seien, während die öffentlich gewordenen Fälle lediglich die Spitze des Eisbergs zeigten. Viele Beiträge beschwören den Skandalwert des Themas herauf, führen Depressionen direkt auf den sportlichen Leistungsdruck zurück, prangern den systemischen Umgang mit depressiven Sportler*innen an und schreiben den Betroffenen eine Opferrolle zu. Berichte über eine knallharte Auslese im Sportsystem sowie Lobeshymnen über den Mut, „Schwächen“ zu gestehen, sind bei genauer Hinsicht dennoch pseudokritisch und tendenziell affirmativ. Anstatt stereotype Deutungen depressiver Leistungsschwäche, Hypersensibilität und Fremdheit infragezustellen, reproduzieren sie derartige Annahmen vielmehr und tragen ihrerseits zu deren scheinbarer Selbstverständlichkeit bei.
Felix Kühnle ist seit Juni 2018 als akademischer Rat a.Z. im Arbeitsbereich Sport- und Gesundheitssoziologie angestellt. Seine Forschungsschwerpunkte bilden sportsoziologische Analysen zum Umgang mit Krankheit und Gesundheit im Nachwuchsleistungs- und Spitzensport.