Straßennamen, Statuen und auch so einige im Alltag verwendete Begriffe: Die aktuelle Rassismusdebatte zeigt auf, wo um uns herum das koloniale Erbe noch präsent ist. Und gleichzeitig stößt sie an, sich kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was wir als selbstverständlich oder gegeben ansehen. Göttinger Geschichtsstudierende haben genau das getan und sich im Projekt „Universität und Kolonialismus – Das Beispiel Göttingen“ mit dem schwierigen kolonialen Erbe der Uni Göttingen auseinandergesetzt. Dabei tauchte unter anderem die Geschichte von Schahdad Khan auf, der als Kriegsgefangener nach Göttingen kam und zum „Gegenstand“ der Sprachforschung wurde.
Schahdad Khan stammte aus dem Fürstenstaat Kalat, aus der heutigen Pakistanischen Provinz Belutschistan. Vermutlich wurde er 1879 in Soran geboren, das lag damals in der Kolonie „Britisch-Indien“. Die Region hatte Großbritannien im 19. Jahrhundert mit brutalen Mitteln unter seine Herrschaft gebracht.
Ab seinem 21. Lebensjahr diente Schahdad Khan im britischen Militär als Soldat und kam so während des Ersten Weltkrieges mit anderen südasiatischen Soldaten an die Westfront in Europa. Dort wurde er am 20. Dezember 1914 in der Nähe des nordfranzösischen La Bassée gefangengenommen und anschließend im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf nahe Berlin interniert. In diesem Lager wurden sprachwissenschaftliche, musikwissenschaftliche und anthropologische Untersuchungen gemacht. Letztere haben dabei sogar einen Beitrag zur „Rassenforschung“ geleistet.
In Wünsdorfer Gefangenenlager kreuzten sich die Wege von Schahdad Khan und dem Göttinger Orientalisten Friedrich Carl Andreas. Schahdad Khan war dem Forscher aufgefallen, weil er neben seiner Muttersprache sowohl Urdu, Paschtu, Pandschabi, Sindhi, Brahma, Brahui und Persisch beherrschte – Sprachen, zu denen europäische Wissenschaftler*innen bis dahin kaum Zugang gehabt hatten.
Friedrich Carl Andreas war seit 1903 Professor an der Universität in Göttingen. Eines seiner Hauptinteressen lag im Gebiet der (alt-)iranischen Sprachen. Während des Ersten Weltkriegs heuerte der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen Andreas für ein sprachwissenschaftliches Forschungsprojekt an Kriegsgefangenen an, die in den damaligen französischen und britischen Kolonialgebieten rekrutiert worden waren. Sie wollten eine Art „Lautarchiv“ aufbauen, dass die Sprachen der Welt umfassen sollte.
Diese Forschungsbedingungen waren für Friedrich Carl Andreas sehr vorteilhaft: Weil sich durch das Kriegsgeschehen plötzlich potenzielle „Forschungsobjekte“ in seiner nächsten Nähe befanden, musste er zum ersten Mal nicht mehr tief in die eigene Tasche greifen und in weit entfernte Gebiete reisen, um seine linguistischen Spezialgebiete weiter ergründen zu können. Die Zwangssituation, in der sich die Gefangenen befanden, war die entscheidende Voraussetzung für seine Forschungstätigkeit. Da Andreas bereits alt und gesundheitlich angeschlagen war und lieber zu Hause forschen wollte, sorgte er dafür, dass Khan in das Göttinger Kriegsgefangenenlager verlegt wurde. So gelangte Schahdad Khan im April 1917 nach Göttingen und war von nun an im Lager Ebertal interniert. Khan lebte dort weitestgehend isoliert und musste „ununterbrochen, Tag für Tag, oft auch am Sonntag“ Forschungssitzungen mit Andreas abhalten. Die Lebensbedingungen im Lager waren prekär, immer wieder grassierten auch schwere Krankheiten.
Schahdad Khan nahm bei dieser Forschung unfreiwillig die Rolle einer zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressource ein, deren Auskünfte für wissenschaftliche Studien verwendet wurde. Durch dieses Machtverhältnis und die äußeren Umstände wurde er dazu gebracht, Geschichten zu erzählen, Lieder singen und Auskunft über bestimmte Wortfelder geben.
Von Schahad Khan selbst liegen keine schriftlichen Quellen vor. Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus den wissenschaftlichen Daten der Europäer*innen, die diese für ihre Forschungszwecke notierten. So wissen wir durch eine Aufzeichnung im Lager Wünsdorf, dass Schahad Khan Landbesitzer und vermutlich wohlhabend gewesen ist. Allerdings gibt es heute eine einzige Aufzeichnung von Khan selbst: eine Tonaufnahme. Auf dieser singt Khan ein Lied in belutschischer Sprache, in dem ein junger Mann sein Zuhause und eine Geliebte verlässt, mit der er anschließend in Briefkontakt steht. Wissenschaftler*innen vermuten, dass Schahad Khan das Lied, auch wegen Parallelen zu seiner eigenen Biografie, nicht zufällig gewählt hatte. Vielmehr könnte es als Ausdruck verstanden werden, seine Fremdheits- und Kriegserfahrungen zu verarbeiten und sich und seiner Situation Gehör zu verschaffen.
Schahdad Khan starb 1918 im Gefangenenlager an Tuberkulose – eine Folge der Gefangenschaft. Alles, was heute an ihn erinnert, ist ein Grabstein auf dem Göttinger Stadtfriedhof, auf dem sein Name falsch geschrieben ist.
Die Geschichte von Schahdad Khan zeigt, unter welchen Formen von Machtmissbrauch Wissen entstanden ist. Gleichzeitig wurden diese Menschen unsichtbar gemacht, blieben unerwähnt oder wurden gar vergessen. Wissen, das auf diese Art entstanden ist, wird „Colonial Knowledge“ genannt. Es ist wichtig, diese systematische Unsichtbarmachung von außereuropäischen Individuen zu thematisieren. Dabei muss aber sensibel vorgegangen werden. Im Fall von Schahad Khan war es beispielsweise wichtig, sich zu fragen, ob die überlieferte Tonaufnahme von seinem Gesang überhaupt frei zugänglich gemacht werden sollte. Und können europäische Forscher*innen überhaupt darüber entscheiden, ob Khan gehört wird und wenn ja, in welcher Form? Diese Überlegungen zeigen, dass Wissenschaftler*innen historische Fragestellungen möglichst reflektiert und kritisch angehen und sich auch mit kolonialen Kontinuitäten und kolonialem Erbe auseinandersetzen müssen.
Die umfangreich recherchierte Geschichte von Schahdad Khan und viele weitere Forschungsergebnisse sind auf der Webseite www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de zu finden.