Renaissance der thematischen Kartografie

Untergegangene Dörfer, Burgen, Mühlen und natürlich das Wegenetz: Seit mehr als 50 Jahren gibt das Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen Karten zu verschiedenen Themen heraus. Heutzutage erscheinen sie auch exklusiv im digitalen Format, zum Beispiel zu Klöstern oder ganz aktuell zum Chaussee-Bau auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens. Dr. Niels Petersen gibt hier einen Einblick in die Möglichkeiten moderner Kartografie und erklärt, wie sich der Forschungshorizont dadurch erweitert.

Welche Rolle spielt die Kartografie in den Historischen Landesforschung?

In der Geschichtswissenschaft spielen Raum und Zeit immer eine wichtige Rolle. Anstatt sich aber auf eine Zeit zu konzentrieren, wie beispielsweise die Industrialisierung oder das Spätmittelalter, schauen die Landeshistoriker*innen in einem begrenzten Raum über die Epochen hinweg. Dabei wird der geografische Raum von ganz vielen weiteren Schichten überlagert, die sozial erschaffen werden. Neben klassischen staatsorganisatorischen Einheiten wie Bundesland oder Fürstentum können das auch Einzugsgebiete von Pendler*innen oder geistliche Einheiten der unterschiedlichen Konfessionen und Orden sein, die auf demselben geografischen Gebiet nebeneinander existieren. Die thematische Kartografie ist dabei ein Instrument, um diese Zusammenhänge zu visualisieren und Räume zu rekonstruieren. Zu wissen, wo Burgen und Klöster, Fabriken und Eisenbahnlinien lagen oder wo Grenzen verliefen ist zentral, um sich im historischen Raum zurechtzufinden. Ein Blick auf die Karte erklärt auch oft, warum Entwicklungen gerade so verliefen, wie sie es taten.

Screenshot aus der digitalen Karte zu Handelsstraßen

Die digitale Kartografie ist in den Geisteswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Das Göttingen Centre for Digital Humanities unterstützt die Historische Landesforschung, aber zum Beispiel auch Forschungsteams in der Archäologie sowie in der Ur- und Frühgeschichte auf diesem Gebiet. Welche Möglichkeiten bietet die digitale Kartografie den Forschenden?

Die digitale Kartografie in den Geisteswissenschaften leitet eine Renaissance der thematischen Kartografie ein. Denn in der Visualisierung von Informationen löst sie viele Probleme gedruckter Karten, die nur eine begrenzte Menge an Eintragungen wiedergeben können Je detaillierter die Karte ist, desto größer müssen Maßstab oder Papierformat sein, sonst wird das Kartenbild unübersichtlich. Wissenschaftliche Kartenwerke müssen Texthefte mit Quellenangaben und Erklärungen beigeben, um für die Forschung nutzbar zu sein.

Stand hier die Karte im Zentrum, ist es in der digitalen Kartografie eher anders herum. Die Karten sind nun eher ein wichtiges Nebenprodukt umfangreicher Datenbanken. Aus ihnen lassen sich die verschiedenen Informationsebenen und Räume gleichzeitig visualisieren. Die Nutzer*innen können nun frei zoomen, nach Themen filtern und direkt auf Quellennachweise, Dokumentationen, Fotos oder historische Karten zugreifen. Ein anschauliches Projekt sind die Layers of London, wo Altkarten, historische Ereignisse, thematische Karten und vieles mehr die historische Dimension des heute doch ziemlich verbauten Stadtraums erschließen. Die Nutzer*innen sind damit aber auch viel mehr gefordert, selbst auszuwählen, was sie sehen wollen.

Für Geograf*innen ist es ein alter Hut, aber für die Geisteswissenschaften noch ein Experimentierfeld: Anhand der Karten und ihren Datenbanken lassen sich Analysen von Netzwerken, zeitlichen Dynamiken, Statistiken und so weiter durchführen. Ein Netzwerkmodell des vormodernen Transports in Nordeuropa entsteht gerade an unserem Institut in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle des Europäischen Hansemuseums und zahlreichen internationalen Partnern. Über die Zeiten von Jahrmärkten, die Lage von Zollstellen und Häfen sowie den Verlauf von historischen Wegen diskutieren wir lebhaft und berichten darüber im Projektblog und bei twitter.

Darstellung von Dynamiken in Raum und Zeit

Anstecker von Pilgern ins kleine Nikolausberg wurden an vielen Orten gefunden, Stapelrecht und Jahrmärkte zeugen von der frühen Handelslandschaft. Welche neuen Erkenntnisse lassen sich aus der Verknüpfung solcher Funde und Zeugnisse mit regionalen Wegekarten ableiten?

Ein Vorteil des Digitalen ist die Möglichkeit, die Daten miteinander zu kombinieren. Für die historische Forschung sind Tabellen und quantitative Erhebungen noch Stiefkinder. Die Skepsis ist gerechtfertigt, denn historische Daten sind eben per se ungenau und lückenhaft und müssen in ihrer Aussagekraft zunächst qualitativ bewertet werden. Wo aber schon Datenbanken vorliegen, zeigt sich ihr Potenzial auch in der Rekonstruktion kleinräumiger Bezüge. Das Beispiel Nikolausberg ist sehr anschaulich.

Quasi als Souvenir und Talisman haben Pilger von ihrem Ziel einen Anstecker mit nach Haus genommen. Die Jakobsmuschel aus Compostella ist besonders bekannt. Auf dem Weg oder auch im eigenen Dorf oder Haus konnten diese schnell verloren gehen und sind so für uns erhalten. Anhand der Funde lassen sich auf Herkunft und Wege der Pilger schließen. Für die aktuelle Ausstellung Pilgerspuren hat Prof. Dr. Wolfgang Petke die Funde Nikolausberger Zeichen erhoben. Die Kombination seiner Daten mit den bei uns kartierten historischen Fernhandelswegen in einer digitalen Karte zeigte eine Streuung der Zeichen entlang dieser Straßen. Mithilfe von Geoinformationssystemen (GIS) lassen sich überdies Annäherungen an Reisezeiten ermitteln, mit denen man wiederum die Herbergen finden kann, in denen solche Pilger übernachtet haben.

Spannender wird es bei größeren Datenmengen und Raumbezügen: Anhand von Zollrechnungen lassen sich Warenbewegungen und Konjunkturen auf verschiedenen Routen analysieren und visualisieren. Mithilfe der digitalen Kartografie werden so Dynamiken in Raum und Zeit erfahrbar.

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